ISSN: 2171-6633
Estudios Franco-Alemanes 1 (2009), 193-217
Interkulturalität im Alltag
REGINA PATZAK
Interkulturelles Zentrum IKZ Wien
patzak@aon.at
Fecha de recepción: 22 de febrero de 2009
Fecha de aceptación: 31 de marzo de 2009
Abstract: In this article the intercultural question will be studied from the space- time
- angle. We start from an intercultural background defining culture, in a simplified
form, as an inventory of socio-psychological schemes, which can be enlarged to an
imagery. Intercultural research can be refined by the field of imagology, studying
different images. E.T. Hall´s distinction of monochronic and polychronic is refined by
Polly Platt, who calls the French quarkochronic. The monochronic type, keen on
punctuality and correctness, works linearly. The polychronic type on the contrary
enjoys life without being critical about regularity. Different tasks can be done
simultaneously. The French can either lean to the monochronic or polychronic
position, depending on circumstances. These results in mind, our focus will be on
the way the sapce- time- aspect is fictionalized. For this purpose, some famous
literary characters taken from German, French and English-speaking literature will
be evaluated according to their monochronic, quarkochronic and polychronic nature.
Monochronic/quarkochronic and polychronic aspects can determine the basic tenor
of a literary work, where Paris functions undoubtedly as the imagological hub.
Intercultural lattices occur throughout the centuries- Phileas Fogg epitimizes at its
best the monochronic type and the English gentleman. The space-time- dimension is
also present in daily situations like the traffic lights.
Key words: intercultural Linguistics, imagology, culture.
Zusammenfassung: Interkulturelle Parameter, in der die Kultur vereinfacht als
soziopsychologisches Gerüst betrachtet wird, werden in dieser Arbeit mit Hilfe der
Theorien von E. T. Hall untersucht, der zwischen monochronen und polychronen
Gruppen unterscheidet. Monochrone Elemente der Pünktlichkeit und Genauigkeit
gelten vor allem in Deutschland, Großbritannien und den USA, während polychrone
Inhalte der Geselligkeit und Lebensfreude in Spanien und in Ländern Asiens und
Afrikas zu finden sind. Frankreich klassifiziert Polly Platt als quarkochron, zwischen
monochron und polychron angesiedelt. Die sich daraus ergebende Raum-Zeit-
Komponente wird auf mehreren Ebenen beleuchtet. Monochrone/Quarkochrone/Polychrone
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Aspekte können als Grundmuster literarischer Werke ihren Tenor bestimmen. So
fungiert zum Beispiel Paris als Inspirationsquelle für amerikanische Exilschriftsteller
der Zwischenkriegszeit. Ausgehend von dieser Rahmenbedingung werden bekannte
Imagotypen, Figuren und Personen, die imagologisch (in Bildern) erfasst werden,
wie der englische Gentleman Phileas Fogg, dargestellt. Die Raum-Zeit-Dimension ist
aber auch in Alltagssituationen sicht- und spürbar, wie z. B. in der Ampelregelung.
Schlusswörter: Interkulturalität, Imagologie, Alltagsstituationen.
Vorwort
Die westliche, hochtechnologisierte Welt wächst immer mehr zusammen.
In unserer schnelllebigen von multimedialer Präsenz überströmten Welt
gewinnen Konzepte der Alterität immer mehr an Bedeutung. Dabei kommt
der Interkulturalität eine entscheidende Rolle zu. Seit einigen Jahren
stimuliert sie die Neuorientierung der Geisteswissenschaften, die zu
Orchideenfächern abzurutschen drohten, im Sinn des
kulturwissenschaftlichen Aspekts und Anspruches. Zuerst im
angelsächsischen Raum als Cultural Studies oder Postcolonial Studies
propagiert, zieht die relativ junge Disziplin als intermediación cultural oder
als interculturalité in anderen europäischen Ländern immer mehr
Interessierte an. Die technische und wirtschaftliche Globalisierung führt
dazu, dass interkulturelle Aspekte wissenschaftlich ausführlicher erfasst
und umgesetzt zu werden.
Im postmodernen Zeitalter des sich zu konkretisierenden Vereinten
Europas treffen oppositionelle Gedanken aufeinander. Einerseits wird die
verstärkte Zusammenarbeit der einzelnen Staaten angestrebt, andererseits
bangt jeder Staat um seine eigenständige Kultur und Sprache. Es geht
vorrangig um die Angst der Uniformisierung. Besonders kleine Staaten
fühlen sich von der totalen Marginalisierung bis hin zur Absorption
bedroht. In dieses emotionale Geschehen kann und soll die Interkulturalität
als Mediatorin eingreifen. Denn Inter - Kulturalität bringt im erfolgreichsten
Fall Inter- Aktion mit sich. Positive Beispiele finden sich dennoch auch. Es
stechen vor allem Länder hervor, die kulturell dual oder multikulturell
ausgerichtet sind, wie z. B. Belgien in Europa oder Kanada und die USA in
Nordamerika.
Nicht nur Differenzen machen Europa stark und unvergleichlich,
sondern Ähnlichkeiten, die den interkulturellen Dialog würzen und
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scheinbar unüberwindbare Diskrepanzen nuancieren. So soll
Interkulturalität auch transkontinental wirken. Ein anzupeilender
Kosmopolitismus kann dazu beitragen, das Andersartige zu akzeptieren
und als eigenständig anzuerkennen. Auch von politischer Seite erhält dieser
Bereich entscheidende Impulse. Die Europäische Kommission hat das Jahr
2008 zum Europäischen Jahr des Interkulturellen Dialogs erklärt.
Die in der Frage um die Interkulturalität entbrannte Diskussion bezieht
automatisch den zentralen Terminus der Transkulturalität ein, der sich im
interkulturellen Paradigma manifestiert als das Ineinanderübergreifen von
kulturellen Idiosynkrasien und Platz macht für neue transkulturelle
Eigenschaften.
Ausgehend von einem theoretischen Hintergrund soll in diesem Artikel
aufgezeigt werden, inwieweit die unterschiedliche kulturbedingte Erfassung
der Raum- Zeit Dimension als Indiz der Interkulturalität ihren
Niederschlag in der deutschsprachigen, französischsprachigen und
englischsprachigen Literatur und in der Darstellung von literarischen
Figuren und der Atmosphäre des Werkes gefunden hat. Dieser
Zusammenhang, der die Instrumente der Literaturwissenschaft um die
interkulturelle Komponente erweitern könnte, blieb bis jetzt in der Analyse
von literarischen Figuren unbeachtet.
Weiters soll gezeigt werden, dass sich die interkulturellen Ergebnisse
keineswegs auf die Literatur beschränken, sondern sehr wohl als fester
Bestandteil unseren unmittelbaren Alltag bestimmen. Damit soll auch dem
Anspruch auf praktische Verwertbarkeit nachgekommen werden. Im
Gegensatz zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen vielleicht, ist die
Interkulturalität praxisorientiert und in jedem Kontakt mehrerer Kulturen
im privaten wie geschäftlichen Bereich einsetz- und umsetzbar.
1. Der Kulturbegriff
Zu Beginn muss die Frage nach der Terminologie des Schlüsselwortes
„Kultur“ geklärt werden. Wer Interkulturalität verstehen möchte, kommt
nicht herum, den schwierig zu definierenden Kulturbegriff zu überdenken
und zu definieren.
Seit Jahrhunderten gibt es unterschiedliche Ansätze dafür, jeweils mit
spezifischen Schwerpunkten. Auf die immer noch andauernde Problematik
einer Terminologisierung einzugehen, würde in dieser Arbeit zu weit gehen.
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Deshalb soll versucht werden, den Begriff „Kultur“, so wie er für die
Anwendung und Analyse in diesem Bericht verwendet wird, so umfassend
und gleichzeitig so einfach wie möglich einzuführen.
Eklektisch werden mehrere Forschungstendenzen untersucht, um eine
Formel herauszuarbeiten, die die angegebenen Forschungsaufträge
untermauern.
Der Vorreiter auf dem Gebiet der Interkulturalität Hans-Jürgen
Lüsebrink definiert Kultur als
Gesamtheit der symbolischen Kommunikationsformen
und medien einer Gesellschaft…, in denen sie sich
verständigt, selbst darstellt, repräsentiert,
Vorstellungsmuster, ästhetische Geschmacksmuster,
Lebensstile und Rollenbilder entwickelt.
1
Anders ausgedrückt, kann Kultur als kulturwissenschaftlich
ausgerichtete Landeskunde verstanden werden.
Die Sprachwissenschaftlerin Annelie Knapp-Potthoff bringt weitere
nützliche Informationen auf den Punkt. Sie versteht unter Kultur …
(…) ein abstraktes, ideationales System von zwischen
Gesellschaftsmitgliedern geteilten Wissensbeständen,
Standards des Wahrnehmens, Glaubens, Bewertens und
Handelns, das in Form kognitiver Schemata organisiert
ist und sich im öffentlichen Vollzug von symbolischem
Handeln manifestiert“.
2
„Gesellschaft“ darf in Zusammenhang mit der Interkulturalität nicht auf
einen verwestlichten Wertemaßstab reduziert werden, der nach
gesellschaftsfähig und nicht gesellschaftsfähig unterscheidet.
Der Begriff „Gesellschaft“ sollte vielmehr durch den neutralen Ausdruck
„Gruppe“ ersetzt werden, der im weiteren Verlauf genauer bestimmt
werden wird. „Kulturell“ verweist in dieser Arbeit auf zivilisationsbedingte
Vorgänge, Gegebenheiten des täglichen Lebens.
1
LÜSEBRINK, Hans-Jürgen, RÖSEBERG, Dororthee, Landeskunde und Kulturwissenschaft in der
Romanistik. Theorieansätze, Unterrichtsmodelle, Forschungsperspektiven. Tübingen: Gunter Narr,
1995: p. 25
2
KNAPP-POTTHOFF, Interkulturelle Kommunikationsfähigkeit als Lernziel. Frankfurt: Fischer, 1997:
p. 184
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Diese unterschiedlichen kulturellen Prozesse und das daraus
resultierende öffentliche Handeln sollen hier unter die Lupe genommen
werden.
Interkulturelle Forschung kann unterschiedliche Aspekte thematisieren.
Teildisziplinen wie die interkulturelle Linguistik, die interkulturelle Politik,
die interkulturelle Pädagogik, den interkulturellen Ansatz in der
Kulturpsychologie oder das interkulturelle Management können
Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen sein.
Dieser Bericht konzentriert sich auf die interkulturelle Literaturanalyse
sowie die interkulturelle Interpretation von Alltagssituationen.
Interkulturelle Analysen können erst entstehen, wenn zwei verschiedene
Entitäten aufeinandertreffen. Die französische Soziolinguistin Ruth Amossy
hat zu diesem Zweck die kontrastiven Begriffe der endogroupe / ingroup
eingeführt, um die Mitglieder einer gemeinsamen Kulturgruppe, dies kann
eine soziale Gruppe bis zum Staat sein, zu definieren. Ihr gegenüber steht
die exogroupe / outgroup
3
. Beim Kontakt der beiden Gruppen entstehen
Bilder. Heteroimages, Fremdbilder, stehen in engem Zusammenhang mit
Autoimages
4
, Selbstbildern.
Images sind Bestandteile der komparatistischen Literaturwissenschaft,
die ihre Instrumente der interkulturellen Forschung zur Verfügung stellen
kann. Interdisziplinär und assoziativ können sich die komplexen
Forschungsergebnisse der Imagologie, die die Images als Forschungsgebiet
bearbeitet, und der Interkulturalität sehr gut ergänzen.
Den Grundstein für die Komparatistik hat 1966 Hugo Dyserinck mit
seinen epistomologischen Recherchen gelegt. Der Terminus des Image ist eng
mit der des Stereotyps verbunden, das jedoch in unserer Gesellschaft
negativ konnotiert wird.
5
Der Stereotyp, als Begriff ursprünglich 1922 aus dem Druckereiwesen
kommend, genauso wie das Image werden von öffentlich zugänglichen
Trägern der Sprache, der Medien, der Literatur, der Mythen und Symbole
getragen und weitergegeben.
3
AMOSSY, Ruth, Anne HERSCHBERG PIERROT, Stéréotypes et clichés. Langues. Discours. Société.
Paris: Nathan, 1997 : p. 45
4
PAGEAUX, Daniel Henri, La Littérature générale et comparée. Paris: Armand Colin, 1994 : p. 65
5
cf. LÜSEBRINK, RÖSEBERG: p. 132.
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Im Laufe der Zeit werden aus Images ein imaginaire. Dieser aus dem
Französischen übernommene Begriff beschreibt vortrefflich ein
soziokulturelles Inventar, das in der ingroup seinen festen Platz und seine
Gültigkeit hat. Für die (literarische) Analyse von Personen führt Olivier
Brachefield den Begriff der imagotypes ein, den Manfred Fischer
6
übernimmt. Imagotypen gehören zum imaginaire.
Der Imagotyp scheint als Bezeichnung geeigneter zu sein, da unsere
Arbeit auf Images aufgebaut ist als der Begriff Ethnotyp.
Das immense Gebiet des kulturellen imaginaire, dessen psychologische
Bedeutung nicht zu leugnen ist, dient immer wieder als Basis für
Untersuchungen literarischer oder soziokultureller Art. Im Sprachgebrauch
etabliert sind Ausdrücke, die die outgroup ironisch- sarkastisch anvisieren.
Franzosen werden gerne als frogs bezeichnet. Das Bild des Frosches geht auf
zwei Tatsachen zurück: die indirekte Kritik an den Eßgewohnheiten der
Franzosen, die Froschschenkel essen und die Heimat von Exilfranzosen, die
im 17.Jahrhundert das von Fröschen überflutete Pariser Marais-Viertel
verließen, um nach England zu gehen.
Ebenfalls eine kulinarische Spezialität wählten die Briten für die
Deutschen, die imagologisch als Sauerkrautesser bekannt wurden und
deshalb krauts heißen. Franzosen sehen in Briten die Vermenschlichung des
roastbeef, was wiederum die komparative interkulturelle Bedeutung der
Koch-und Esstradition unterstreicht.
Schmeicheln wird niemand, der diese Ausdrücke verwendet. Sie
erinnern an die Selektivität und gleichzeitig an die Immanenz von
überlieferten Images.
Eine Reihe wissenschaftlicher Arbeiten existieren bereits zum Thema der
Interkulturaliät in der Literatur. Marius-François Guyard führt um 1950
7
die
französische Tradition der literaturvergleichenden Analysen von Fernand
Baldensperger zu Beginn des 20. Jahrhunderts fort, der 1905 und 1907 zwei
bedeutende und einflußnehmende imagologische Artikel - „L´Angleterre et
les Anglais vus à travers la littérature française“ et „L´Allemagne et les
Allemands vus à travers la littérature française“, verfaßt hat. Jean - Marie
6
BRACHEFIELD, Olivier, „Note sur l´Imagologie éthnique“, in : Revue de psychologie des peuples,
17, 1962, pp. 341-349.
7
Die Informationen stammen von : BELLER, Manfred, L´immagine dell´altro e l´identità nazionale:
metodi di ricerca letteraria. Fasano: Schena, 1996: p. 36 ss.
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Carré konzentriert sich auf das französische Englandbild des 20.
Jahrhunderts besonders jenes zwischen 1914 und 1940.
Die methodologischen Grundgedanken der Interkulturalität stützen sich
unter anderem auf assoziative Disziplinen wie die Soziologie und die
Psychologie: Interkulturelle Theorien basieren vorwiegend auf den
Untersuchungen des deutschen Imagologen Joep Leerssen von der
Universität Amsterdam, der in seinen zahlreichen Artikeln „... die soziale
Funktion von Literatur…“
8
hervorhebt, die die Eigenschaften der eigenen
Gruppe unterstreichen und eine klare Trennlinie zu einer anderen Gruppe
ziehen.
Dabei darf ein essentieller Punkt nicht vergessen werden. Nationale
Stereotypen sind intertextuelle Konstrukte:sie basieren auf existierenden
Texttraditionen, die die Realitätserfahrung völlig überschatten..“
9
Dieses essentielle Argument soll sich als roter Faden durch die Arbeit
ziehen, ohne ständig direkt erwähnt zu werden.
Neben der soziopsychologischen Komponente kann die historisch-
psychologische Dimension von images /imaginaire nicht vernachlässigt
werden.
Der französische Historiker Pierre Nora, der eingehend die Geschichte
Frankreichs untersucht hat, sieht in ihr ebenfalls eine psychologische
Dimension. 1984 fasst er als erster die Bedeutung von historischen
Ereignissen als lieux de mémoire, Gedächtnisplätze zusammen:
[Die lieux de mémoire sind]... materielle Stützen von
Gedächtnisinhalten. Diese Orte, in denen sich das
Gedächtnis kristallisiert und sich wie ein Sediment
niederlässt.
Diese Gedächtnisstützen sind manchmal geographische
Orte; es können aber auch bedeutende Ereignisse sein
der nationalen Geschichte, emblematische Figuren.
10
Pierre Nora sieht in emblematischen Figuren auch Gedächtnisplätze. Wir
gehen davon aus, dass literarische Figuren gleichfalls zu emblematischen
8
Beller: p. 49
9
Leerssen, Joep, 1998: “National Identity and national stereotype”.In: www. Cf.hum.uva.nl.
Suchwort: Pierre Reboul, p. 2 Zugriff : 28.8. 2005
10
Übernommen von: LÜSEBRINK, RÖSEBERG: p. 78
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Figuren und Gedächtnisplätzen werden können. Emblematische Figuren
sind der ingroup bekannt, die sich mit ihnen identifizieren kann. Die
unstofflichen Konstrukte des imaginaire und die Gedächtnisplätze
Images dienen im weiteren Sinne der Bildung des Selbstbewusstseins
und der Einfügung in die eigene Gruppe . Die nationalen, rassistischen und
sonstigen Stereotypen oder Vorurteile sind in diesem Sinne ein Teil des
eigenen Wertesystems.
Dieses Wertesystem ist auf jede ingroup abgestimmt. Danach richtet sich
auch das jeweilige imaginaire und die Gedächtnisplätze. Es kommt zum
Herausfinden von Ähnlichkeiten der Gruppe, nennt, und zum Herausfiltern
von Unterschieden.
Um die Kultur des anderen bestmöglich analysieren zu können, was
natürlich begrenzt durchführbar ist, sollten auch andere Zugänge zum
kulturellen Verständnis gewählt werden.
2. Zeit und Raum als interkulturelle Instrumente.
Der amerikanische Anthropologe Edward T. Hall, Autor von The Silent
Language (Doubleday, 1959), The Hidden Dimension (Doubleday, 1966), und
Beyond Culture (Anchor Press, 1976)
11
konzentriert sich seit den 50er Jahren
auf die Zeit als Parameter für die Kulturanalyse. Seine manchmal negativ
gestaltete Rezeption und Rezension, die ihm den Vorwurf des Rassismus
einbrachte, wollen wir ausblenden, da lediglich seine Zeittheorien von
Belang sind.
Er führt die Begriffe monochron und polychron ein. In monochronen
Gruppen wie in England, in den USA und in anderen germanischen Länder
wird die Zeit linear vorgestellt, ist programmiert, in einzelne Teile
zerlegbar.“
12
. Deshalb zählen Pünktlichkeit und Exaktheit. Kontrastiv treten
polychrone Gruppen auf wie Spanien zum Beispiel. Sie sehen Zeit ... hier
eher als einen Punkt als eine Linie oder Gerade. Die Zeit ist charakterisiert
durch die Vielfalt der gleichzeitig ausgeführten Aktivitäten wie auch durch
das Interesse für andere Personen.“
13
.
Pünktlichkeit und Exaktheit stehen hier im Hintergrund.
11
Die website www.pollyplatt.com hat mir diese Idee gegeben. PLATT, Polly, French or Foe.
Laval: Beauchemin, 2000.
12
LÜSEBRINK, RÖSEBERG: p. 167
13
LÜSEBRINK, RÖSEBERG: p. 167
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Vereinfacht kann die Raum- Zeitschiene als Nord- Süd-Bild verstanden
werden.
14
Monochron kann mit dem Attribut Norden ergänzt werden, während
polychron dem Süden zuzuordnen ist.
Monochron und polychron sind keine Werturteile. Laut Hall sind beide
Positionen gleichberechtigt und sich notwendigerweise gut ergänzend in der
heutigen Welt.
Weiters verweist der amerikanische Wissenschafter auf die
Kontextgebundenheit, die die Wahrnehmung der zeitlichen Abläufe
begleitet. Monochrone Kulturen weisen eine schwache
Kontextgebundenheit auf, die in der Sekundärliteratur als low context culture
geführt wird.
So erläutert die deutsche Romanistin Dorothee Röseberg diese
Auffassung folgendermaßen:
Programme, detaillierte Zeitplanung, um Störungen und
Überschneidungen zu vermeiden, ein auf Minuten
genauer Kalender, dicke Wände, Doppeltüren
begrenzen und bremsen den interpersonalen Kontakt
und damit den Informationsfluss. …es entsteht der
Eindruck, dass deutsche Geschäftspartner rigide und
schwer erreichbar sind.“
15
In einem Psychogramm der monochronen Kultur scheinen somit die
Prioritäten Pünktlichkeit, Korrektheit, aber auch Distanziertheit auf. Obwohl
Hall und die von seinen Theorien beeinflussten Wissenschafter ihr Interesse
auf die Zeitkomponente richten, kann die Zeit ohne den Raum nicht
ausreichend erfasst werden, wie das gewählte Zitat aber gleichzeitig
deutlich macht. Zeit bedingt den Raum und Raumvorstellungen bedingen
die Zeitwahrnehmung. Die in monochronen Kollektivitäten vorausgesetzte
Pünktlichkeit ist eine Form der persönlichen Zeiterfahrung. Der
Ordnungssinn beinhaltet die räumliche Strukturierung.
14
Genauere Angaben finden sich in der sogenannten Klimatheorie.
15
LÜSEBRINK, RÖSEBERG: p. 170
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Der französische Philosoph Michel Foucault klassifizierte das 20.
Jahrhundert als „Epoche des Raumes“.
16
Bertrand Westphal, der sich seit
längerem auf die Beschreibung der Raums in der Literatur, bekannt als
Geokritik, spezialisiert hat, erklärt, dass „… der Zeit-und Raumfaktor nicht
von einander zu trennen ist….In und mit dem Zeitparameter gestaltet sich
der Raum als Garten, dessen Wege nach links, rechts, nach unten wie nach
oben führen.“
17
Beispiele der differenzierten Raum-Zeitwahrnehmung werden anhand
der literarischen Werke veranschaulicht.
Das räumlich Eingrenzbare gibt der Monochronie das Gefühl der
Kontrollierbarkeit.
Vorausschauend kann erwähnt werden, dass das Monochrone
geschlossene Räume bevorzugt, während das Polychrone die freie Natur zur
Entfaltung benötigt.
Denn weder der monochrone noch der polychrone Kreis sind homogen.
Genaugenommen müssten in der monochronen und polychronen Gruppe
selbst weitere Segmentierungen vorgenommen werden, um einzelne
Aspekte abzugrenzen. Im monochronen Bereich müsste zwischen
deutschsprachigen Ländern wie Deutschland, Österreich und der
deutschsprachigen Schweiz differenziert werden. Innerhalb dieser Länder
gibt es noch interne Unterschiede zu beachten, die sich in Deutschland dual
in einem Nord-Süd- und Ost-West- Gefälle, in Österreich in einem Ost-West-
Gefälle äußern.
Neben dem deutschsprachigen Raum wird der angelsächsische Standort
Großbritannien und Nordirland, Irland auf europäischer Seite sowie die
Vereinigten Staaten und Kanada auf amerikanischer Seite interessieren.
Ausschließen darf man in dieser Differenzierung Australien und
Neuseeland nicht. Jede dieser Entitäten hebt für sie spezifische monochrone
Eigenschaften hervor, wodurch andere in den Hintergrund treten.
Sprachliche Gebundenheit und Verbundenheit sind nicht zu
unterschätzende Phänomene der ingroup und des imaginaire.
16
FOUCAULT, Michel : „Andere Räume“ : in : Wentz, Martin : Stadt-Räume ; Frankfurt, 1991 : p.
66.
17
WESTPHAL, Bertrand: „Pour une approche géocritique“. In : La Géocritique mode d´emploi,
PULIM : Limoges : 2000 : p. 8ff.
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Der polychrone Bereich wiederum teilt sich in spanischsprachige Gebiete,
wobei Unterschiede zwischen europäischen und lateinamerikanischen
Ländern bestehen, und Italien, sowie komplett andere Wirkungskreise, die
einen exotischen Status annehmen können.
Bei genauer Betrachtung der Dichotomie Monochronie - Polychronie fällt
aber ein gewisser Unterschied zwischen den einzelnen polychronen
Kulturen auf. Während Hall und die von ihm beeinflussten
Kulturwissenschafter diesbezüglich keine weitere Differenzierung
vornehmen, so ist es sinnvoll, unseren Blick auf andere Werke und Autoren
zu richten, die im interkulturellen Bereich forschen.
Dabei nimmt die in Frankreich lebende Amerikanerin Polly Platt in
ihrem humorvoll gestalteten Ratgeber „French or Foe ?“ mit Recht eine
genauere Einteilung der polychronen Kulturen vor. Sie nennt die Franzosen
quarkochron und unterstreicht somit, je nach Situation und Bedeutung, ihre
Neigung zum Monochronen oder zum Polychronen. Eine quarkochrone
Lebenseinstellung kann als Schnittstelle zwischen Monochron und
Polychron angesehen werden. Seit 1789 wird die französische ingroup durch
die Errungenschaften der Französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit geprägt. Der übermäßige Ruf nach Freiheit gilt als polychron,
denn es beinhaltet die Freiheit, die Zeit nach eigenen Vorstellungen zu
leben. Obwohl die Angaben zu monochron, quarkochron und polychron
auch zu Beginn des 3. Jahrtausends ihre Gültigkeit haben, beginnen durch
die globalisierenden Multimedien ihre exakten Konturen zu verschwimmen.
Ein eindeutiger Trend zur Polychronie ist dabei nicht zu übersehen. So
können monochrone Gruppen polychrone Eigenschaften übernehmen und
allmählich in ihr imaginaire aufnehmen. Nichtsdestotrotz hält sich dieser
Prozess in Grenzen.
Nach dieser theoretischen Einführung in die Grundbestandteile und
Begriffe der Interkulturalität wird der zweite Teil des Artikels der Analyse
gewidmet.
Dabei werden zwei ineinandergreifende Aspekte beleuchtet. Einerseits
werden ausgewählte literarische Figuren auf ihre Zeiterfassung hin
untersucht werden. Andererseits soll ebenfalls dargelegt werden, dass
Grundhaltungen und Rahmenbedingungen in einem literarischen Werk eine
monochrone und quarkochrone Atmosphäre intensivieren können. Narrativ
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interessant ist die Umsetzung des Zeit-und Raumgefühls in Werken der
Weltliteratur.
18
Vorweg sei daran erinnert, dass der literarische Kanon natürlich ein
extrem breites Spektrum an literarischen Figuren bietet, die es alle verdient
hätten, interkulturell analysiert zu werden. Trotzdem musste eine Auswahl
getroffen werden.
Images der outgroup literarisch zu verarbeiten hat eine Kontrastfunktion,
die die soziale Funktion bei weitem übersteigt. Schnell wird der Charakter
zu einem schematisierten nationalen Objekt.
Von kritischer wie lobender Seite werden Stimmen laut, die die Idee
eines Nationalcharakters ambivalent als Stereotype oder als notwendige
Kategorisierung akzeptieren (müssen).
Rückblickend gibt es Epochen, die den interkulturellen Kontakt schon
vor der Globalisierung gepflegt und vorangetrieben haben. Viele von diesen
tradierten Heteroimages gehören bis heute zum imaginaire. Historische
Großereignisse prägen imagologische Ergebnisse. Neben den beiden
Weltkriegen sind im 20. Jahrhundert der Vietnamkrieg und der Irakkrieg zu
nennen, die das Bild der USA in der Öffentlichkeit beeinflussten.
Weitere bestimmende Faktoren waren der Hundertjährige Krieg, der
Streit um den Suezkanal als Zankapfel zwischen Großbritannien und
Frankreich, der Deutsch-Französische Krieg von 1870/ 1871 und der
Falklandkrieg von 1982 zwischen Argentinien und Großbritannien, um nur
einige Beispiele ins Gedächtnis zu rufen.
Besonders die Aufklärung und das 19. Jahrhundert besonders der
Romantiker lässt durch binäre interkulturelle Darstellungen aufhorchen.
Binär bedeutet, dass Autoimage und Heteroimage direkt nebeneinander
und miteinander agieren.
Als erste bedeutende interkulturelle Untersuchung eines Heteroimages
in Frankreich gilt nichtsdestotrotz die Präsentation des Fremden in De
l´Allemagne ( 1810 ), das Madame de Staël während ihrer zahlreichen Reisen
verfasst. Ihr Beitrag beruht auf einem antithetischen Verständnis von
Romania, dem französischsprachigen Kulturkreis, und Germania, dem
deutschsprachigen Pendant.
18
Im folgenden werden nichtdeutschsprachige Textausschnitte in der Übersetzung
wiedergegeben, um eine einheitliche Textstruktur zu gewährleisten.
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Dennoch bleibt England im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts der
Favorit des interkulturellen Interesses. Honoré de Balzac, Victor Hugo treten
in Voltaires Fußstapfen. Die französische Oberschicht lebt ihre Anglophilie,
die sie zur Anglomanie steigert, mit Attributen wie fashion, spencer, dandy
und jockey-club aus. Die Imitation von Lebensweise und typische Mode
bedeutet die intensive Implikation der outgroup in das vorhandene Schema.
Die höchstmögliche Variante der interkulturellen Wahrnehmung äussert
sich im Mythos, der extrem klischeehaft (relativ) lange stilisiert und
unangefochten hochgehalten wird.
Gleichzeitig durchflutet das restliche Europa eine Welle von Gallophilie
und Gallomanie, die das absolutistische Frankreich bis ins 18. Jahrhundert
erfolgreich bekräftigt. In diesem Zusammenhang könnte man aufzeigen,
dass die 2.Hälfte des 20. und das 21. Jahrhundert von einer Amerikomanie
überrollt werden.
Im 19. Jahrhundert bleibt das Interesse an Spanien und Italien erhalten,
wie uns Stendhal in der Chartreuse de Parme ( 1839 ), Prosper Mérimée in
Carmen oder Victor Hugo in Ruy Blas sowie Theóphile Gauthier in España
verdeutlichen. Weiters zieht sich der literarische Exotismus zum Beispiel in
Nervals Voyage en Orient und Flauberts Salambô fort.
Im folgenden Abschnitt werden das Monochrone und das Quarkochrone
jeweils aus der Sicht der jeweiligen ingroup und dann aus der Perspektive
der outgroup veranschaulicht.
Ganz automatisch ergibt sich die Frage, ob und inwieweit Präsentationen
übereinstimmen.
Zwei Schwerpunkte fließen in die Auswahl der Werke und in ihre
Interpretation ein.
Beginnen wird der einleitende Teil mit der Analyse des Lokalkolorits,
dem Grundtenor des Werkes, der durch äußere Rahmenbedingungen
vorgegeben wird. Die zweite Passage fokussiert auf einzelne literarische
Figuren und ihre durch die Zeit dominierte charakterliche Disposition.
3. Monochroner/polychroner/quarkochroner Tenor in den literarischen
Werken.
In einem für die Aufklärung typischen kategorischen Stil qualifiziert Jean
le Rond d´Alembert, französischer Enzyklopädist des 18. Jahrhunderts,
benachbarte europäische Länder nach ihren Vorzügen. England ist eine
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vortreffliche Denkernation, Deutschland lädt zum Verweilen ein, während
Frankreich der ideale Lebensort ist. Sicherlich generalisiert d´Alembert, ohne
andere Qualitäten einzubeziehen oder Kritik zu üben.
Somit verbreitet er das quarkochrone Bild der genussvollen Leichtigkeit,
das als savoir-vivre von der französischen ingroup zelebriert wird und
unverkennbar zu dessen imaginaire gehört. Das savoir-vivre strahlt als
Konstante so stark aus, dass andere Sprachen den französischen Ausdruck
einfach übernommen haben.
Das komplexe vor allem sozial ausgerichtete savoir-vivre bezeichnet eine
Anzahl von Regeln der Höflichkeit.
Franzosen haben das Essen an sich so viel kommentiert,
das sie es mit den Jahren zur festen Ausstattung ihrer
Gesellschaft gemacht haben. Kochen wird zu einer Art
Gemälde oder Gedicht erhoben. Selbst Familienessen
werden als Theatervorstellung zelebriert. Das nenne ich
savoir-vivre.
19
Das quarkochrone Lebensgefühl des savoir-vivre bestimmt den Rahmen
in „A Moveable Feast“ [Ein Fest fürs Leben] In dem posthum 1964
erschienenen Werk schildert der US-amerikanische Nobelpreisträger Ernest
Hemingway die mit polychronen Elementen gefärbte Unbeschwertheit der
französischen Hauptstadt, die zentrifugal und zentripedal als ville-texte
wirkt, nicht nur in der Zwischenkriegszeit. Gravitationsfelder gehören
einfach zum imaginaire. Imagologisch können Paris, London, Berlin, New
York etc lokalisiert werden, die den Ton für die ingroup und die Bewertung
der outgroup angibt.
Zusammen mit anderen Exil-Amerikanern flieht Hemingway zur Zeit
der Prohibition nach Europa. Dieser historische Hintergrund und das daraus
resultierende Loblied auf Paris findet sich auch bei Henry Millers „Tropic of
Cancer“ [Im Wendekreis des Krebses] und bei George Orwells „Down and
Out in Paris and London“ [Unterwegs in Paris und London].
Obwohl die Atmosphäre der 20 er Jahre des letzten Jahrhunderts perfekt
eingefangen wird , gilt das Bild von Paris als legendär und ist auch so in die
US- amerikanische Literaturgeschichte eingegangen. Das vermittelte Bild
des unkonventionellen vie bohème, das den Exilliteraten als absolute
19
BERNSTEIN, Richard, Glorie. New York:Rutland, 2007: 179.
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Inspirationsquelle dient, spiegelt die quarkochrone Grundhaltung wieder,
die sich im Laufe der Jahrzehnte kaum verändert.
Die auferlegte Prohibition des extrem monochronen US-Amerika versteht
sich indirekt als geistige Zensur und Austrocknung des schriftstellerischen
Potentials. Unumstritten entfaltet sich das quarkochrone Profil am besten
auf großen Boulevards und Avenues mit gemütlichen Cafés.
Nicht immer war die Darstellung der französischen Hauptstadt, Inbegriff
der Quarkochronie, nur positiv ausgerichtet.
Bei einem Zeitsprung ins 19. Jahrhundert fällt das Bild beim Engländer
Charles Dickens ganz anders aus, dessen Schilderung von der Französischen
Revolution in „A Tale of Two Cities“ von 1859 durch die binäre
Konstruktion London-Paris interkulturell von Interesse ist.
Ohne die notwendigen weitreichenden Konsequenzen für Europa und
die Welt hervorzuheben, beschränkt sich Dickens damit, ein Schwarz-Weiß-
Bild von Frankreich und England zu malen.
Er kontrastiert die Stabilität Englands gegen Ende des 18. Jahrhunderts
als oberstes monochrones Prinzip und das revolutionäre Frankreich, das in
den Wirren der Revolution keine Sicherheit mehr bietet. In diesem Werk
gründet sich die Dichotomie auf einem lange andauernden Streit und
Machtkampf zwischen Frankreich und Großbritannien. „A Tale of Two
Cities“ dient, um Leerssens soziale Funktion der Literatur einzubringen, zur
Stärkung des Selbstbewusstseins der englischen ingroup.
Das monochrone Bewusststein der Ordnung und Pünktlichkeit wird in
Großbritannien schon von frühester Jugend an antrainiert.
Lewis Carrol führt in seinem Kinderbuch „Alice ´s Adventures in
Wonderland“ [Alice im Wunderland] von 1865 das Weiße Kaninchen als
Träger der Monochronie ein, das immer fürchtet, zu spät zu kommen.
Die überdimensionale Taschenuhr fungiert als unverzichtbarer
Bestandteil einer von Zeitdruck bestimmten Lebenshaltung. Obwohl als
Kinderbuch vermarktet, übt Carrol darin scharfe Kritik an bestehenden
sozialen Regeln, indem er die sonst als monochron einzustufende Logik ad
absurdum führt.
Ähnlich eröffnet Franz Kafka, der neben Peter Handke der im nicht-
deutschsprachigen Ausland der meistgelesene österreichische Autor bleibt,
der ingroup ein Universum, in dem Zeitdruck und Ausweglosigkeit
abwechseln und letztendlich miteinander verschmelzen.
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Herkömmliche Helden gibt es nicht. Sogenannte Anti- Helden gelangen
nicht an ihr Ziel. Monochron eingrenzende Räume werden zu Protagonisten.
Das Irrationale bricht unvermittelt und unreflektiert ins normale Leben
herein als Verwandlung zum Beispiel. Die Erzählung „Gibs auf“ von 1924
greift die typischen Themen auf.
Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich,
dass es schon viel später war, als ich geglaubt hatte, ich
mußte mich sehr beeilen, der Schrecken über diese
Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden.
20
Durch die angedeutete Utopisierung wird der Raum zu einem
undurchsichtigen Labyrinth. Die RaumZeit- Metapher wirkt wie eine
Spirale, die in den Abgrund reißt.
Der Blick der deutschen ingroup auf die französische outgroup im
folgenden Fall enthält ebenfalls negative Züge. Der Protagonist Fonty
durchlebt in Günter Grass‘ Roman Ein weites Feld (1995) die deutschen
Wiedervereinigung als Aufbruch aus der alten, monochronen Ordnung.
Verzweifelt und resigniert flüchtet er von Berlin in die französischen
Cevennen. Fonty glaubt und hofft vergeblich, dass der Raumwechsel eine
positive Änderung bringen würde. Das quarkochrone Frankreich wird in
diesem Beispiel der deutschen Gegenwartsliteratur zum utopischen Nicht-
Ort degradiert, der zwar ein ideales Arsenal inspirierender Formen ist, aber
ohne Tiefgang bleibt. Grass macht die ins Quarkochrone/Polychrone
triftende Oberflächlichkeit deutlich, die er Frankreich zuteilt. Die von
Hemingway angepriesene Leichtigkeit des französischen Lebens schwingt
zwar als Indiz mit, kommt aber nicht mehr zur Entfaltung.
4. Literarische Figuren.
Explizit oder implizit monochrone oder polychrone
Rahmenbedingungen r ein literarisches Werk werden von Figuren
getragen, bei denen selbstverständlich unterschiedliche Grade an
Monochronie und Polychronie festgestellt werden können.
Grundzüge sind mehr oder weniger deutlich erkennbar, nicht immer
schon in erster Linie im Charakter der literarischen Person, sondern auch im
Bestreben und Zwang, der von außen, vor allem der Gesellschaft kommt. Je
20
KAFKA, Franz, Sämtliche Erzählungen. Frankfurt: Donner, 1978 (Reed.) S. 410ff.
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nachdem wirken monochrone, quarkochrone oder polychrone Prinzipien
von außen auf das Individuum ein.
Beginnen wir diesen Teil mit einem immer noch populären Schriftsteller,
der der interkulturellen Dichte besondere Aufmerksamkeit schenkt.
Um den erweiterten Topos der monochronen Genauigkeit kreist das 1873
von Jules Verne verfasste Werk „Um die Welt in 80 Tagen.“ [La Tour du
Monde en Quatre-Vingts Jours].
Als Gegenspieler zum phlegmatischen und durchwegs monochronen
Engländer Phileas Fogg tritt der französische Diener Passepartout auf, der
wie keine andere literarische Figur das quarkochrone Wesen der Franzosen
verkörpert. Schon sein Name verrät sein Bestreben, sich aus jeder noch so
schwierigen Situation herauszumanövrieren, und bei niemandem und
nirgendwo anzuecken dank seiner sozialen Anpassungsfähigkeit und
überraschenden Wandelbarkeit. Im Vergleich mit Hemingway könnte
Passepartout die Personifizierung des vom Amerikaner angeführten savoir-
vivre sein. Kongruent ist die Präsentation der Franzosen und Frankreich von
einem quarkochronen ingroup- Standpunkt aus am Beispiel Jules Vernes
sowie von einer monochronen outgroup Sichtweise aus am Beispiel
Hemingways.
Foggs Nüchternheit und Unbeirrbarkeit hingegen wird als gefühlskalt
und undurchdringlich eingestuft. Er übersieht in seiner Fixierung das
savoir-vivre.
Gerne wird der Ordnungsfanatismus durch die Maschinen -Metapher
verstärkt. Fogg ist eine „… wunderbar organisierte Maschine, …ein
Automat.“
21
Die „chronometrische“ Genauigkeit, eine Eigenschaft aus dem Bereich
der Zeitmessung gegriffen, unterstreicht den positiven Aspekt der
Gleichmäßigkeit. Fogg war „Vollkommen ausgeglichen... nie in Eile aber
immer bereit.“
22
Regelmäßig wird die Zeit thematisiert. Nicht ohne Grund in
der Person des Engländers Phileas Fogg. Die ganze Welt orientiert die
Zeitmessung am englischen Ort Greenwich.
21
. „..une machine si mérveilleusement organisée... VERNE, Jules, Le Tour du Monde en Quatre-
Vingts Jours. Paris : Gallimard, 1985 (Reed.): S. 14
22
.„ bien équilibré... jamais pressé et toujours prêt“ Verne : S. 6.
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Der monochrone Ordnungsfanatiker vereint somit die markanten
Eigenschaften des spleenigen, phlegmatischen Gentleman, Eigenschaften,
die sich (mehr oder weniger direkt) auf einen Puritanismus zurückführen
lassen, der auf Attributen wie Gewissenhaftigkeit beruhen. Parallel dazu
sticht Foggs Eleganz ins Auge. Sein elegantes Auftreten ist eine
Modeerscheinung, die vom viktorianischen England ganz Europa
überschwemmt. Das große Vorbild ist George Bryan Brummel, der als Beau
Brummel Maßstäbe setzt.
Geschickt ordnet Jules Verne durch die onomastische Charakterisierung
(Fogg hat einen undurchdringlichen Charakter wie der Nebel, „Fog“) das
französische Autoimage neben dem Heteroimage an und kristallisiert so
eindrucksvoll deren Divergenzen heraus. Selten finden sich in der
Literaturgeschichte ähnlich intensiv gestaltete binäre Darstellungen, die
Autoimage und Heteroimage verbinden.
In diesem Fall sind monochrone und quarkochrone Züge prototypisch
vielleicht überzeichnet, aber ihre Universalität beeindruckt nachhaltig bis in
die heutige Zeit. Das in der Literatur geschaffene und übertragene imaginaire
des Engländers hat nichts von seiner Gültigkeit und nichts von seinem
Charme verloren. Beide Personen wurden zu Imagotypen erhoben. Jules
Verne beweist, dass der englische Gentleman sowohl Bestandteil des
französischen imaginaire als auch des englischen imaginaire ist.
Die Tradition des prototypischen Gentleman wird im 20.Jahrhundert
fortgesetzt. Pierre Daninos verleiht seinem „Major Thompson“ 1918 ähnlich
wie später André Maurois 1954 seinem „Colonel BrambleGrundzüge von
Fogg.
In Rahmen des von der französischen ingroup propagierten englischen
Imagotyps darf sein weibliches Pendant in diesem Artikel nicht unerwähnt
bleiben.
Hier ist die von Maupassant 1884 beschriebene Miss Harriet und deren
treffendes Porträt zu nennen, die puritanische Wesenszüge in sich vereint:
Die alten Jungfern bringen überall ihre eigenartigen
Manien und ihre versteinerten Altweiber-
Moralvorstellungen ein…einen gewissen
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Kautschukgeruch, der glauben lassen könnte, dass man
sie nachts in ein Etui legt.
23
Die karikierte Engländerin definiert sich deutlich über einen kleinen
Raum.
Ein anderes Element der monochronen Imagotopie unterstreicht das
folgende Beispiel.
Mit Schmucke, der als monochrone Karikatur hervorsticht, stellt der
französische Romancier Honoré de Balzac in „Cousin Pons“ 1847 einen
deutschen Musiker den Franzosen gegenüber. In dieser interkulturellen
Konstellation kommen Madame de Staëls Ergebnisse zum Tragen.
Der exzessive Sammler Pons teilt die Leidenschaft für Musik mit dem
Deutschen, der als Träumer die romantische Erwartung der französischen
ingroup erfüllt. Balzac präsentiert den Einzelgänger als naiv, in seine Welt
der Musik vertieft. Die Zeit nimmt er nur peripher wahr. Trotz seiner
Harmoniesucht im Orchester wie im Leben, bleibt Schmucke ein
ambitionsloser und mittelmäßiger Beobachter, der passiv nie sein Leben in
die Hand nimmt. Allein die Oper bleibt sein Refugium, der einzige Platz, wo
Schmucke als Mensch ernst genommen wird.
Aus dem quarkochronen savoir-vivre der Belle Epoche, das den Grundton
des Werkes ausmacht, exquisitem Essen und Likör, macht er sich nichts.
Polychrone Lebenslust steht nicht im Vordergrund.
Dennoch verleiht der Autor dem deutschen Imagotyp kindliche Züge,
die sich wie in ganz Deutschland im Vergleich zum philosophisch
fortgeschrittenen Frankreich manifestieren.
Es wäre falsch, literaturanalytisch Figuren und Werke auf ihr
monochrones oder polychrones Wesen zu reduzieren, ohne andere Faktoren
einzubeziehen. Was trotzdem versucht werden soll, ist das Aufzeigen von
oben genannten Aspekten, die die Charakterisierung verfeinern können.
Die soeben analysierten Beispiele, die aus dem literarischen Kanon nicht
mehr wegzudenken sind, gehören zweifelsohne dem imaginaire der
jeweiligen Gruppe an.
23
„Les bonnes filles... apportent partout leurs manies bizarres, leurs moeurs de vestales
pétrifiées,... et une certaine odeur de caoutchouc qui ferait croire qu'on les glisse, la nuit, dans
un étui.“ MAUPASSANT, Guy de, Miss Harriet: Paris: Didier, 1983. (Reed.):p. 87
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5. Die Raum-Zeit-Wahrnehmung im Alltag.
Das monochrone, polychrone oder quarkochrone der jeweiligen Kultur
wird oft nicht bewusst wahrgenommen, obwohl der Alltag auf diesen
Säulen aufgebaut ist und niemand, der aus derselben Kultur mit derselben
Kontextgebundenheit kommt, sie als unsinnig verurteilen würde. Auffällig
werden diese kulturelle Besonderheiten erst, wenn diese beiden
gegensätzlichen Kulturen in einen interkulturellen Kontakt treten.
An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass die Dichotomie, die sich aus
dem Zusammenspiel zwischen Monochronie und Polychronie/Quarkochronie
ergibt, als Mentalitäts- und Wesensmerkmal der jeweiligen Kultur zu
analysieren ist.
Mentalitäten werden als kollektive geistige
Dispositionen des Bewusstseins, die sich in sozialen
Gruppen zeigen, aufgefasst. Dabei interessieren Formen
des Alltagswissens ebenso wie die dem Bewusstsein
entzogenen, aber tatsächlich wirkenden Denkmuster.“
24
Das Zeit- und Raumerleben nimmt einen weit gewichtigeren Platz im
Leben jedes einzelnen Menschen ein als eine bloße Nebensächlichkeit, mit
der sich ausschließlich Wissenschafter beschäftigen.
Es ist eine Notwendigkeit, „…den physikalischen Raum so zu
erschließen, daß eine Orientierung, ein Handlungsentwurf- und
Realisierung möglich ist.“
25
Dabei gibt die ingroup Maßstäbe dafür vor.
Der französische Soziologe Emile Durkheim bestätigt:„Der gelebte Raum
ist weder subjektiv (jeder Mensch lebt in einem derart strukturierten Raum),
noch ist er ein von dem wirklichen Außenraum zu unterscheidender
Immanenzraum.“
26
Es existieren im Raum mehr oder weniger immanent stabile Codes, die
jede ingroup definiert.
Die aus dem Alltag gegriffenen Beispiele beruhen auf persönlichen
Erlebnisprotokollen.
Ein Beispiel aus dem Alltag soll dies veranschaulichen. Die Strasse ist die erste
Projektionsfläche, wo Autoimages and Heteroimages zusammenkommen.
24
LÜSEBRINK, RÖSEBERG: p. 16
25
GRAUMANN, Robert, Sozialpsychologie des Raumes: Köln: Almatea, 1978: p. 185
26
DURKHEIM, Emile: Untersuchungen zum gelebten Raum. Berlin, Schöningh, 1967: p. 389
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Anders als im literarischen Werk, bei dem Zeit verstreicht, bis in der Rezeption
heftige Kritiken verurteilen, kann dieser erste Kontakt in der Öffentlichkeit zu
direkter Aggression und Aggressivität führen.
Die Regelung des Straßenverkehrs durch Verkehrsampeln basiert, auch
wenn dies eigenartig erscheint, nach monochronen oder polychronen
Prinzipien. Quarkochrone Ampeln funktionieren wie polychrone.
Monochrone Ampeln in Deutschland oder Großbritannien zum Beispiel
folgen dem Schema Grün Gelb Rot. Diese Reihenfolge gilt auch r die
anderen Kulturen. In der anderen Richtung aber überwiegt in monochronen
Kulturen die lineare Struktur, Rot Gelb Grün. Dieses Gelb dient als
Vorbereitung und zugleich als Aufforderung, bei Grün sofort wegfahren zu
können. Kann der Fahrer im monochronen Straßenverkehr nicht sofort bei
Grün wegfahren, deutet das laute Hupen hinter ihm darauf hin, dass er
kulturelle Codes nicht beachtet hat.
Die gleiche Abfolge der Farben bei der Ampelschaltung entspricht dem
gewünschten und gewohnten Ordnungssinn und der Exaktheit, die das
monochrone Wesen bestimmen. Mitglieder der monochronen Ingroup
würden niemals die Sinnhaftigkeit dieser Abfolge hinterfragen, geschweige
denn kritisieren. Die Ampelschaltung ist ein festes Autoimage.
Quarkochrone Autofahrer hingegen sind mit monochronen Codes
normalerweise nicht vertraut, außer sie haben länger in monochronen
Kulturen gelebt. Sie bereiten sich in monochronen Kulturen deshalb bei Gelb
nicht unbedingt auf das Wegfahren vor. Nichtmonochrone Kulturen können
den Sinn hinter dem Gelb nicht verstehen und finden es überflüssig. Low
context trifft auf High context.
Ein anderes Beispiel kommt aus dem Bereich des Verhaltens in der
Öffentlichkeit. In quarkochronen und polychronen Kulturen ist es im
Restaurant/ Lokal durchaus üblich, das Geld für die Konsumierung und das
Trinkgeld auf dem Tisch liegen zu lassen und das Restaurant zu verlassen.
In monochronen Restaurants würde dieses Verhalten mehr oder weniger
Ärger mit sich bringen. Den zu bezahlenden Betrag gibt man den Kellner
persönlich und stockt um das Trinkgeld auf. So erspart man sich in
monochronen Kulturen den Vorwurf der Zechprellerei und des Betruges.
Monochrone Kulturen fokussieren auf Effizienz, vor allem im beruflichen
Bereich. Zu diesem Zweck haben technische Geräte hier schneller ihren
festen Platz als in einem polychronen Umfeld. Mehr als die Hälfte der
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Telefonzellen in britischen Ballungszentren sind mit mehreren technischen
Apparaten ausgestattet. In diesen Telefonzellen, die als autarke High-Tech-
Schaltflächen operieren, können E- Mails empfangen und abgeschickt
werden. Die Konzentration der notwendigen technischen Mittel trägt dazu
bei, Zeit und Raum zu sparen.
Dieses monochrone Prinzip prägt auch weiterhin das Alltagsbild. In
Großbritannien ist es üblich, wenn auch heutzutage in abgeschwächter
Form, dass die Fahrgäste bei Bushaltestellen Warteschlangen bilden.
Räumlich bedeutet dieses queuing-up eine Vorgabe und Einhaltung der
sozialen Codes der ingroup.
Monochrone Kinoliebhaber in Großbritannien und Deutschland wissen,
dass in den meisten Kinosälen unterschiedliche Preise durch die Platzwahl
bedingt sind. Sitzplätze in den vorderen Reihen sind billiger als jene weiter
hinten. Im quarkochronen Frankreich gibt es nur einen Einheitspreis für
Kinokarten. Die Platzwahl spielt keine Rolle. Der Kinoraum wird von den
Besuchern wie den Kinobetreibern in seiner Totalität wahrgenommen.
Räumliche Aufteilungen gibt es nicht, denn sie würden dem Prinzip der
Gleichheit widersprechen. Selbst nach der Französischen Revolution
funktioniert das quarkochrone Alltagsleben nach egalitären Prinzipien, wie
auch das System des Concours unter Beweis stellt.
Unter Concours versteht man ein prüfungsähnliches Auswahlverfahren,
das durchlaufen werden muss, wenn ein Posten im öffentlichen Dienst
angestrebt wird, sei es für Lehrer oder Generaldirektoren. Für monochrone
Verhältnisse mag es absurd erscheinen, dass selbst eine Putzfrau diesen
Concours mitmachen muss. Somit soll gewährleistet werden, dass theoretisch
jeder, der den Concours besteht, Anrecht, im Sinne der Chancengleichheit,
auf den öffentlichen Posten hat. Monochrone Bewerbungen laufen über den
Bewerber selbst.
Räumliche Begrenzungen, erinnern wir uns an das Zitat von Röseberg,
verweisen auf monochrone Strukturen. Zwei unterschiedliche Beispiele
sollen dieses Phänomen dennoch im quarkochronen Frankreich relativieren.
Öffentliche Postkästen besitzen in Frankreich zwei Schlitze, einen für das
respektive Département und dessen Umland, und den zweiten für den Rest
Frankreichs und das Ausland. Solche Vorrichtungen, die der Post die
Vorsortierung erleichtern soll, würde man eher an monochronen Standorten
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vermuten. Aber gerade dort, in Großbritannien genauso wie in Deutschland
finden sich solche öffentlichen Postkastenöffnungen nicht.
Den Grund dafür in der Einwohnerzahl zu finden, führt die Analyse
nicht weiter, denn Deutschland zählt bei weitem mehr Einwohner als
Frankreich.
Hier liegt die Vermutung nahe, dass, aus Angst, das Polychrone könne
mit der Zeit überwiegen, das Monochrone von der öffentlichen Hand, in
diesem Fall der Post, als überschaubarer Wert institutionalisiert wird. Der
offizielle Aufruf, Briefsendungen vorzusortieren, auch, wenn dies sicher
nicht immer durchgeführt wird, beweist die Notwendigkeit des
Quarkochronen, dem einzelnen Mitglied der ingroup mehr
Eigenverantwortung zuzutrauen. Indirekt bestätigt sich damit der Aufruf zu
mehr monochroner Konstanz.
Räumliche Begrenzungen erfüllen im quarkochronen Frankreich einen
zusätzlichen kollektiv wertvollen Zweck. Sie erinnern daran, dass das
Freiheitsprinzip leicht überbeansprucht ja sogar missbraucht werden kann.
Deshalb säumen zahlreiche Mautstellen das französische Autobahnnetz.
Ohne sie würden wahrscheinlich keine Abgaben für die Benutzung bezahlt
werden.
6. Perspektiven.
Abschließend muss wiederholt werden, dass die soeben dargestellten
literarischen Porträts und Idiosynkrasien des Alltags nur Teilaspekte der
interkulturellen Unterschiede beleuchten können.
Nach dem kurz skizzierten interkulturellen Streifzug durch die
Jahrhunderte und verschiedensten Kombinationen von einer Projektion der
ingroup auf die outgroup ist es wichtig, auf die möglichen Perspektiven der
interkulturellen Forschung aufmerksam zu machen. Dieses weite bis jetzt
noch unerforschte Feld ermöglicht ein unendliches Potential mit
unerwarteten Kombinationsmöglichkeiten. Die in dieser Arbeit absichtlich
gewählte westliche Ausrichtung der Interkulturalität kann und soll dazu
inspirieren, den Blick ebenfalls nach Osten zu richten. Raum- und
zeittheoretische Betrachtungen lassen sich auf jedes (literarische) Werk und
jede Alltagssituation anwenden. Neben der topografisch-temporalen Achse
gibt es genügend andere Aspekte, nach der sich die Interkulturalität
analysieren lässt. Im interkulturellen imagologischen Kaleidoskop können
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kulinarisch-gastronomische Schwerpunkte gesetzt werden genauso wie die
Beschäftigung mit der Gartenkunst, die den französischen und englischen
Garten unterscheiden sst. Hinter einem belanglos erscheinenden
Nebeneffekt versteckt sich eine Identitätskonstitution er ingroup, die tiefe
Einblicke in Codes und imaginaire bieten.
Die Kunst als entscheidendes Vehikel der Kultur kann in Form von
Bildern, Musik oder Bauwerken unter die interkulturelle Lupe genommen
werden.
Immer mehr an Bedeutung gewinnen auch Analysen von Festen wie
Weihnachten und Ostern, die den Jahreskreis strukturieren, und anders
zelebriert werden.
Die Praxis zeigt, dass ein symbiotisches Zusammenspiel zwischen
monochronen und polychronen Elementen in der heutigen Zeit unerlässlich
ist. Wünschenswert ist ein natürliches Mittelmaß an Pünktlichkeit und
Ordnungssinn ohne in Fanatismus abzugleiten. Ebenso anstrebenswert ist
ein harmonisches Mittelmaß an Freiheitsgedanken ohne rücksichtslos und
arrogant zu wirken. Eine Sensibilisierung der Wahrnehmung der eigenen
Kultur und die Abgrenzung zu anderen Kulturen hat höchste Priorität.
Dieser Auftrag stellt eine Herausforderung für die Aus- und Weiterbildung
dar. Denn eine Fremdsprache zu erlernen und fließend zu sprechen
impliziert noch nicht das Erkennen von anderen kulturellen Mustern. Es ist
ein essentieller Beitrag des Unterrichts und der Geisteswissenschaftlichen
Fakultät auf diesem Gebiet Zeichen zu setzen, die ein Umdenken bewirken
können. Denn Erkennen ist ein erster Schritt in Richtung Akzeptanz und
friedliches Miteinander.
Aus den Alltagsbeispielen wird deutlich, wie viel Fingerspitzengefühl im
Umgang mit anderen Kulturen erforderlich ist, um nicht Opfer des
Vorwurfs von Rassismus zu werden.
Denn bei aller Herausarbeitung von Unterschieden müssen wir
schlussendlich dankbar zugeben, dass wir alle Menschen sind. Diese
Tatsache vereint mehr als sie trennt.
Ziel ist es, dem anderen mit mehr Offenheit und Toleranz zu begegnen.
Literaturverzeichnis
Primärliteratur:
BERNSTEIN, Richard, Glorie. New York:Rutland, 2007.
Interkulturalität im Alltag
Estudios Franco-Alemanes 1 (2009), 193-217
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Cf.hum.uva.nl. Suchwort: Pierre Reboul, Zugriff: 28.8. 2005
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PLATT, Polly, French or Foe. Laval: Beauchemin, 2000.
WESTPHAL, Bertrand, Pour une approche géocritique. In: La Géocritique mode
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