ISSN: 2171-6633
Estudios Franco-Alemanes 14 (2022), 27-39
UND MORGEN DIE GANZE WELT:
GEWALTMANIFESTATION ALS PSYCHOLOGISCHE
ANTWORT
RICARDA HIRTE
Universidad de Córdoba
ricarda.hirte@uco.es
Fecha de recepción: 09.06.2022
Fecha de revisión: 25.07.2022
Fecha de aceptación: 05.09.2022
Resumen: Der Film Und Morgen die ganze Welt steht im Mittelpunkt des Beitrags, um
die zunehmende Gewaltbereitschaft der Hauptfigur Luisa mit Hilfe der Psychologie
eingehender zu betrachten. Neben Freuds Triebtheorie wird vor allem auf die Arbeit
des forensischen Psychiaters Kröber eingegangen, der davon ausgeht, dass die
Gewalt ein Teil der menschlichen Natur ist. So entwickelt sich der freudianische
Todestrieb in einen Destruktionstrieb, der sich vom Ich lossagt und sich nach Außen
hin manifestiert, wobei zu berücksichtigen ist, dass Gewalt und Destruktion immer
an eine kulturelle Komponente gebunden ist. Anhand des psychischen Triebs kann
man die Gewaltentwicklung der Filmheldin Luisa erklären, wobei als letzte
psychische Instanz, die Moral, die Gewalt eindämmt oder ihr freien Lauf lässt.
Keywords: Film, Trieb, Gewalt, Destruktion
Und Morgen die ganze Welt: manifestation of violence as a
psychological response
Abstract: The film Und Morgen die ganze Welt is the focus of the paper to look more
closely at the increasing propensity to violence of the main character Luisa with the
help of psychology. In addition to Freud's drive theory, the paper focuses on the
work of the forensic psychiatrist Kröber, who assumes that violence is part of human
nature. Thus, the Freudian death drive develops into a destructive drive that
renounces the ego and manifests itself externally, whereby it must be considered that
violence and destruction are always tied to a cultural component. The development
RICARDA HIRTE
Estudios Franco-Alemanes 14 (2022), 27-39
28
of violence in the film heroine Luisa can be explained based on the psychic drive,
whereby morality, as the final psychic instance, curbs violence or gives it free.
Keywords: film, drive, violence, destruction
Sumario: 1. Einleitung. 2. Titelfragment, Propaganda und Kritik. 3. Kurzpräsentation
des Films. 4. Treibtheorie von Freud. 5. Die Rolle des Krieges.
1. Einleitung
2020 erschien der Film Und Morgen die ganze Welt in Regie von Julia von
Heinz und mit der Schauspielerin Mala Emde in der Hauptrolle in einer
deutsch-französischen Koproduktion. Bei den Internationalen
Filmfestspielen in Venedig wurde der Film präsentiert und erlangte eine
Platzierung, um im Wettbewerb um den Goldenen wen teilnehmen zu
können.
In Deutschland wurde der Film zum ersten Mal als Eröffnungsfilm bei
der Filmkunstmesse in Leipzig einem Publikum gezeigt und eröffnete die
Internationalen Hofer Filmtage im Oktober desselben Jahres. In die Kinos
gelangte der Film in Deutschland am 29. Oktober 2020 und seit Mai 2021 ist
er auf Netflix zugänglich.
2. Titelfragment, Propaganda und Kritik
Bereits der Titel legt die Vermutung nahe, dass der Film thematischen
Bezug zu rechtsextremen Gruppierungen herstellen will, da der Titel auf das
nationalsozialistische Propagandalied „Es zittern die morschen Knochen“
verweist. Allerdings hat auch dieses Lied eine kleine Vorgeschichte, die im
Zusammenhang mit dem Film interessant ist: Lied und Text wurden von
dem damaligen 18-jährigen Gymnasiasten Hans Baumann 1932 verfasst.
Darin heißt es in der Urversion:
Es zittern die morschen Knochen
Der Welt vor dem roten Krieg
Wir haben den Schrecken gebrochen
Für uns wars ein großer Sieg
Und Morgen die ganze Welt : Gewaltmanifestation als psychologische Antwort
Estudios Franco-Alemanes 14 (2022), 27-39
29
Wir werden weiter marschieren
Wenn alles in Scherben fällt
Und heute da hört uns Deutschland
Und morgen die ganze Welt
In dieser Version ist eine eindeutige nationalsozialistische Konnotation
nicht zu erlesen, da der Text auch anders kontextualisiert werden kann. Es
ist das Jahr 1932, auch wenn es die Nationalsozialistische Partei schon gibt,
ist Deutschland erst vor den Toren des Nationalsozialismus. Nach der
Machtergreifung von Hitler 1933 ändert sich auch der Text des Liedes. So
wird in Die weiße Trommel aus dem Jahr 1934 der Text der zweiten Strophe
folgendermaßen umgestaltet:
Und heute gehört uns Deutschland
Und morgen die ganze Welt.
Der Unterschied zwischen da hört und gehört braucht nicht weiter
hervorgehoben zu werden, klar ist allerdings, dass die Verschiebung von
hört zu gehört zwei unterschiedliche Verben markiert, die auf zwei
Bedeutungsebenen arbeiten: einmal ist es das Verb hören, also ich höre, ich
hörte, ich habe gehört und das andere Mal ist es das Verb gehören,
dementsprechend ich gehöre zu, ich gehörte zu, ich habe zu… gehört. Nur
das Partizip des einen Verbs koinzidiert im Präsens in der dritten Person
singular und der zweiten Person plural, wobei das Hilfsverb haben bei der
Perfektbildung hier unbeachtet bleibt. Beide Verben, die unterschiedliche
Bedeutung haben, beanspruchen auch innerhalb eines Textes
unterschiedliche semantische Felder.
Der Liedtext wurde bis 1937 noch weiter verändert und hinsichtlich
seines Gebrauchsfeldes angepasst. Um eine Fehlinterpretation zu vermeiden
und keinen Aufruf zum Krieg zu leisten, ergänzte Baumgarten 1936
wahrscheinlich erstmals einen veränderten Refrain, der lautet:
Sie wollen das Lied nicht begreifen
Sie denken an Knechtschaft und Krieg-
Derweil unsere Äcker reifen
Du Fahne der Freiheit, flieg.
RICARDA HIRTE
Estudios Franco-Alemanes 14 (2022), 27-39
30
Wir werden weiter marschieren
Wenn alles in Scherben fällt,
die Freiheit stand auf in Deutschland
und morgen gehört ihr die Welt.1
Die eigentliche Intention des Liedes wurde zunehmend für andere
Zwecke missbraucht und mit der Zeit verwandelte es sich zu einem
Propagandalied des NS-Regimes.
Teil des Refrains findet sich als Filmtitel wieder, wobei zu fragen ist, ob
hier Intention und Finalität auseinanderklaffen oder zusammenfallen, wenn
man von dem Lied als grundlegende Idee ausgeht. So kam der Film bei der
Kritik dementsprechend nicht gleichermaßen an. So wurde bereits nach der
Veröffentlichung des Trailers Kritik laut, dass der Film „rufschädigend“ für
das Kulturzentrum Projekt 31 sei, das zudem eine Zusammenarbeit mit den
Filmemachern ablehnte, da es eine stereotypisierte Rollenverteilung im Film
ablehnte.2 Da dennoch das Kulturzentrum im Film namentlich Pate stand,
hatte es auch die zu erwartenden Konsequenzen nach der Filmpremiere zu
tragen: Das vom Zentrum angemietete Haus wurde verkauft und mit ihm
verlor sich die physische Bleibe. Ebenso wurde in den Kritiken vermehrt
hervorgehoben, dass die Regisseurin selbst jahrelang einer Antifa-Gruppe
angehörte und so der Film einerseits eine gute Milieustudie dieser Gruppen
zeichnen konnte, 3 und andererseits aber über eine klischeehafte
Beschreibung nicht hinauskam. Das Fehlen von tiefgreifenden Charakteren
wie die Perspektivlosigkeit taucht in den Kritiken immer wieder auf. Dies,
vor allem bei der Darstellung der rechten Szene, wo die Personen zu
Stigmen werden und sich in stereotyper Verhaltensweise durch den Film
1 https://www.volksliederarchiv.de/es-zittern-die-morschen-knochen/, aufgerufen am
24.05.2022.
2 RurikSchnackig: Nürnberger Jugendzentrum P31 sucht vergebens neues Zuhause. In:
nordbayern.de. 15. Oktober 2020, hhtps://www.nordbayern.de/region/nurnberger-
jugendzentrum-p31-sucht-vergebens-neues-zuhause-1.10518899, aufgerufen am 24.05.2022.
3 Vgl. Tobias Kniebe: Filmfestspiele Venedig Fragen der Macht.
https://www.sueddeutsche.de/kultur/venedig-filmfestival-deutsch-1.5027450, aufgerufen am
25.05.2022.
Und Morgen die ganze Welt : Gewaltmanifestation als psychologische Antwort
Estudios Franco-Alemanes 14 (2022), 27-39
31
bewegen4. Auch wenn im Ausland der Film ausnahmslos gute Kritiken
bekommen hat, da vor allem die Aktualität des Themas, wie die mise-en-
scène hervorgehoben wurden, bleibt der Motivationsgrund der
Hauptdarstellerin, sich einer Antifa-Gruppe anzuschließen, eher
unbeantwortet und es wird wie Schweizerhof anführt auf die emotionale
Ebene verwiesen. Emotionalität kann als Antwort allerdings nicht
ausreichen, da es andere, tiefgreifendere Mechanismen gibt, die eine solche
Entscheidung begünstigen. Diese können im Verhalten und in der
psychologischen Veränderung der Protagonistin Luisa erlesen werden.
3. Kurzpräsentation des Films
Luisa, ist eine junge Jurastudentin in Mannheim, die aus einer
wohlhabenden Familie kommt, in der die Jagd fester Bestandteil der
familiären Tradition und Kommunikation ist. Aus verschiedenen Gründen
erlebt Deutschland einen Rechtsruck, der sich in brennenden
Flüchtlingsunterkünften und gewaltsamen Übergriffen artikuliert. Luisa
möchte dagegen etwas unternehmen und schließt sich einer Antifa-Gruppe
an, in der ihre Freundin bereits Mitglied ist. Die Gruppe beteiligt sich an
Störaktionen, will aber selbst Gewalt nicht als Mittel zulassen. Dennoch
radikalisiert sich Luisa zunehmend, da ihr in einer der Aktionen Gewalt
angetan wird und sie sich vor der Frage gestellt sieht, ob man Gewalt
anwenden darf, wenn man selbst der Gewalt ausgesetzt ist. Luisa
entscheidet sich für die Gewalt und gegen die eigentlichen Statuten der
linken Szene, die der Gewalt abschwören will. Zusammen mit Alfa, in den
sich Luisa verliebt, und Lenor bilden sie ein gewaltbereites Trio, das nicht
nur mehr Autoreifen zersticht, sondern in Prügeleinen mit Neonazis
verwickelt ist. Luisa befindet sich auf einem Weg fort von der bürgerlichen
Welt hin zur Radikalität, wobei ihre Taten kriminellen Charakter annehmen,
ohne, dass sie sich dessen bewusst wird. Nur einmal, als Luisa und ihr Trio
Sprengstoff in einem rechten Lager entdecken, rührt sich ihr Moral- und
Justizempfinden, denn sie überlegt, ob es nicht besser sei, den Sprengstoff
bei der Polizei abzuliefern. Ihr Liebhaber allerdings stellt sich dieser Idee
4 Barbara Schweizerhof: Vom Kampf gegen rechts filmisch leider ziemlich schematisch.
(https://www.saarbruecker-zeitung.de/nachrichten/kultur/und-morgen-die-ganze-Welt-in-
venedigaid-53273875) In: Saarbrücker Zeitung. 10. September 2020, aufgerufen am 26.05.2022.
RICARDA HIRTE
Estudios Franco-Alemanes 14 (2022), 27-39
32
entgegen und Luisa findet sich in einem komplizierten Dreieck wieder, wo
sie zwischen Gewalt, Liebe und Pazifismus entscheiden muss. Doch an
diesem Punkt erhält sie Hilfe durch Dietmar, ein ehemaliges Mitglied der
Revolutionären Zellen, der für seine Aktionen im Gefängnis war. Er
verweist darauf, dass es mehr als nur zwei Seiten gibt, die aus
Radikalisierung oder Anpassung bestehen. Trotzdem ist Luisa noch nicht
bereit dem weisen Rat Folge zu leisten, denn noch hat sie nicht den Abstand
genommen, den man zum Überdenken von Aktion und Reaktion braucht.
Als zudem die Polizei das „Lager“ der Antifa-Gruppe stürmt und
Mitglieder verhaftet, steht auch für Luisas Freundin fest: nicht rechtextreme
Gruppen sind im Visier der Polizei, sondern Gruppen der linken Szene sind
die Störfaktoren. So scheint es in der Schlussszene eine stille Übereinkunft
zwischen den Freundinnen zu geben, die man als ein Einverständnis mit der
Gewalt lesen kann oder aber auch als einen Schlussstrich, der unter alles
gesetzt wird, indem man, denn es bleibt unklar, wer der oder die Täter sind,
den Sprengstoff der rechtextremen Gruppe in deren Lager sprengt. Luisa
allerdings bleibt im Film immer Außen vor, denn weder integriert sie sich
vollends in die Antifa-Gruppe, noch akzeptiert sie bedingungslos die
Gewalt. So oszilliert sie zwischen den Extremen, ohne ihren Platz zu finden.
Der Film versucht das Thema der Gewalt an eine Person zu binden, um so
von der Person auf ein Gruppenverhalten schließen zu können; ein für den
Film und seine Sequenzen vielleicht akzeptables stilistisches Mittel, aber
darüber hinaus fragliche Argumentation, denn es wird nicht auf die Psyche
der Protagonistin eingegangen, sondern sie steht für etwas, ohne dies klar
zu formulieren. Das Personelle überdeckt das Grundanliegen: Die zentrale
Frage des Films kreist um die Legalisierung von Gewalt, das heißt, Gewalt
stößt auf Gewalt und provoziert Gegengewalt. So bedient sich nicht nur die
rechte Szene der Gewalt, sondern auch die Polizei wendet Gewalt an, um
die linke Szene aus dem alternativen Hausprojekt zu vertreiben und die
linke Szene, auch wenn sie pazifistisch sein will, ruft zu Störaktionen auf,
die Gewalt implizieren. Doch wie lässt sich aus psychologischer Sicht die
steigende Gewaltbereitschaft der Protagonistin Luisa erklären, die für das
Etwas steht, da es zu leicht wäre auf die Struktur von Effekt und Wirkung
zu rekurrieren. Gewalt ist in jedem Menschen angelegt und gehören zu den
Trieben, die zur freudianischen Triebtheorie überleiten.
Und Morgen die ganze Welt : Gewaltmanifestation als psychologische Antwort
Estudios Franco-Alemanes 14 (2022), 27-39
33
4. Triebtheorie von Freud
Sigmunds Freud Triebtheorie Jenseits des Lustprinzips ist und wurde
immer wieder in Frage gestellt, ja sogar stark kritisiert. Allgemein geht
Freud in seiner Triebtheorie von einem dualistischen Prinzip aus, in dem
sich alle Tribe in positiver und negativer Form gegenüberstehen und ein
System bilden. Bei Freud wird der Trieb als „ein Begriff der Abgrenzung des
Seelischen vom Körperlichen“ 5 definiert und wird mit dem Begriff der
Repräsentanz verbunden. Repräsentanz ist als „eine Art Delegation vom
Somatischen ins Seelische“6 zu verstehen. Dieser Triebdualismus führt er im
Jenseits des Lustprinzips ein und stellt Lebens- und Todestrieb einander
gegenüber und verändert die Stellung und die Aufgabe der Triebe in einem
Konflikt. Vor allem wird dem Es eine besondere Rolle zuerkannt, denn in
ihm werden beide Triebarten verortet. So kommt Freud zu dem Schluss,
dass „die Kräfte, die wir hinter den Bedürfnisspannungen des Es annehmen,
heißen wir Triebe7 Allerdings kann auch Freud den Antrieb und die
Herkunft der Triebe an sich nicht erklären, nur ihre scheinbare Verortung
mit einer Akzentverlagerung, so dass er 1932 zu der Erkenntnis gelangt,
dass „die Trieblehre sozusagen unsere Mythologie [ist]. Die Triebe sind
mystische Wesen, großartig in ihrer Unbestimmtheit8 Die Triebe werden
also in das Reich der Mythologie und somit in die Anthropologie
ausgelagert, da ihre Erklärbarkeit außerhalb der Ratio und Erklärbarkeit
liegen, sie bleiben existent, aber nicht wissenschaftlich erklärbar, was ihren
Ursprung anbelangt.
Nach Freuds letzter Triebtheorie, in der sich der Lebens- und
Todestrieb dualistisch gegenüberstehen, übernimmt der Lebenstrieb neben
den Sexualtrieben auch den Selbsterhaltungstrieb, der bestrebt ist, immer
größere Einheiten zu schaffen und aufrechtzuerhalten“ (Laplanche, 280). Der
Todestrieb hingegen „strebt nach der vollständigen Aufhebung der
Spannung“ (Laplanche, 4494), was heißt, dass das Lebende in einen
anorganischen Zustand zurückgeführt wird. Die Todestriebe allerdings
5 Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 1905. G.W., V, 67; S.E., VII, 168.
6 J. Laplanche: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch
Wissenschaft, 1972, Bd. 2, 527.
7 Sigmund Freud: Abriß der Psychoanalyse, 1938. G.W., XVII, 70; S.E., XXIII, 148.
8 Sigmund Freud: Neue Folgen der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 1932.
G.W., XV, 101; S.E., XXII, 95.
RICARDA HIRTE
Estudios Franco-Alemanes 14 (2022), 27-39
34
richten sich zuerst nach innen, agieren als selbstdestruierende Kraft, um sich
dann in einem sekundären Prozess nach außen hin zu artikulieren. Diese
Artikulation wird als Aggressions- und Destruktionstrieb bezeichnet, der
immer an die Person gekoppelt ist und eine Bewegung von Innen nach
Außen vollzieht, interessant, da der Prozess bis zur Artikulation innwendig
verläuft und sich in Verhaltensveränderungen und oder auch im
physischem Erscheinungsbild ersehen lässt. Im Film ist dieser Prozess der
innwendigen Veränderung mit der Veränderung des sozialen Umfeldes
visualisiert, wobei das Gesicht der Protagonistin Luisa sich
dementsprechend verändert und markanter, ja man könnte auch sagen,
„verdüsterter“ oder „besessener“ wird. Es ist die sichtbare Vorstufe eines
innerlichen Prozesses, der sich dann in der Aggression „erbricht“.
Wird die Begrifflichkeit der freudschen Triebtheorie moderner
aufgefasst, so kann man von einem Todestrieb als Destruktionstrieb
sprechen, der nicht auf das Ich bezogen agiert, sondern nach auβen, gegen
Objekte gerichtet ist. Die Bewahrung des eigenen Lebens des Ichs wird
erhalten und Fremdes wird zerstört. Der Trieb agiert somit in einer
Dichotomie, da sowohl der Lebenstrieb als auch der Todestrieb im
Menschen a priori angelegt zu sein scheinen. Da sich Triebe in den drei
psychischen Einheiten manifestieren, kann sich der Todestrieb bzw.
Destruktionstrieb durch die Sublimierung verschoben werden und sich als
Aggressivität äußern. Freud geht davon aus, dass die Fremdaggression Teil
des Todestriebes ist und somit die Aggression des Über-Ichs gegen das Ich
in einem dialektischen Verhältnis mit unterbundener Fremdaggression
steht. Als quasi Schiedsrichter fungiert die Moralität, die das amoralische Es
durch das moralisch bemühte Ich harmonisiert, wobei das Über-Ich
hypermoralisch veranlagt ist und eine dem Es angenäherte Grausamkeit
entwickeln kann. Da Moralität an andere Begriffe wie dem Gewissen,
ausgerichtet ist und eine kulturelle Konnotation aufweist, entwickelt sich ein
„Kampf“ des Ich, um Gut und Böse zu unterscheiden, was Freud mit
„sozialer Angst“ begrifflich erfasst.
Wie bereits erwähnt, wurde Freuds Triebtheorie immer wieder
kritisiert, allerdings ist sie auch heute noch in der allgemeinen Psychiatrie
Gegenstand der Forschung und Lehre. In diesem Zusammenhang ist der
Beitrag von Hans-Ludwig Kröber „Gewalt ist ein Teil unserer Natur“
aufschlussreich. Kröber, Psychiater und forensischer Psychiater, forschte
Und Morgen die ganze Welt : Gewaltmanifestation als psychologische Antwort
Estudios Franco-Alemanes 14 (2022), 27-39
35
jahrzehntelang nach den Ursachen, warum Menschen töten. Da die Tötung
mit dem Akt der Gewalt einhergeht, kommt er zu der Ansicht, dass die
„Gewalt - objektiv und moralfrei betrachtet - zunächst eine elementare Kraft
im Menschen ist9. Die Aggressivität und die damit verbundene
Gewaltfähigkeit, heißt es weiter, ermöglichen dem Menschen das Überleben
in einer feindlichen Umgebung, in der jedes Individuum darum bedacht ist,
sich einen Vorteil zu erschaffen. Es ist der Ausdruck der Selbstbehauptung.
Wenn das Individuum Gewalt anwendet, äußert sich seine Macht, es ist eine
Vorführung seines Machtpotenzials und die Kondition, „dass schließlich
auch nur die symbolische Repräsentation genügt“ (Kröber, 5), um Gewalt
anzuwenden. Damit gehört die Gewalt und mit ihr die Aggression in eine
anthropologische Kategorie, die bereits Freud angesprochen hatte, als er die
Triebe in das Reich der Mythologie verbrachte. Gewalt als Aggression ist ein
Constitutum des Menschen und da ihre Erscheinungsform
dementsprechend intensiv und fatal sein kann, muss sie durch die Intensität
in ihrer Erscheinungsform ritualisiert werden, damit sie kontrollierbar
bleibt. Daher „bedürfen alle heftigen menschlichen Bedürfnisse gerader
ihrer Intensität wegen einer besonders starken Kulturierung, also einer
klaren sozialen Regularisierung […], [da] andernfalls sie den sozialen
Zusammenhalt [gefährden] (Kröber, 6). Da sich die kulturelle Komponente
verändert, passt sich auch die Gewalt entsprechend dem sozialen Kodex an,
somit ist Gewalt als solche, mit dem Kontext konnotiert. Diesen Aspekt der
kulturellen Komponente baut Erich Fromm in Anatomie der menschlichen
Destruktivität weiter aus und stellt fest, dass Kultur auf dem Verzicht der
Triebbefriedigung konstruiert wird und jeder Mensch unter dem Einfluss
des gegebenen wie dem anthropologischen Kulturbegriff steht. Um sich der
Kultur anzupassen, bedarf es also einer Triebumwandlung. Doch Gewalt ist
immer ein Teil innerhalb jeder Struktur, da sie dem Menschen eigen ist,
denn sie ist mit der Macht liiert.
9 Hans-Ludwig Kröber: Töten ist menschlich. In: Die Zeit, Nr. 42/2012208.
https://www.zeit.de/2012/42/Toeten-Mord-Psychologie-Kriminalistik/komplettansicht,
aufgerufen am 26.05.2022.
RICARDA HIRTE
Estudios Franco-Alemanes 14 (2022), 27-39
36
5. Die Rolle des Kriegers
Nach Kröber ist die Lebensphase des sich abnabelnden Jugendlichen
und jungen Erwachsenen die kritische Zeit, in der die eigenen
Gewaltbereitschaft geweckt wird, da sich das Selbstkonzept des vor allem
männlichen Jugendlichen herausbildet. In dieser Zeit lockt die „Rolle des
Kämpfers: genauer des Kriegers“ (Kröber, 8), der sich in Gruppen formiert
und innerhalb der sozialen Ordnung als Gruppen, Trupp, Mannschaft etc. in
Erscheinung tritt. Im Film ist es nicht der männliche Jugendliche, der sich
selbst sucht und definieren will, sondern Luisa, die junge Jurastudentin.
Allerdings ist diese von Klein auf mit Gewalt vertraut, und zwar in Form
der Jagd als gesellschaftliches Ereignis und zum Gefallen ihres Vaters. Doch
diese Art der Gewalt oder diese Form des Kriegers lehnt sie eigentlich ab,
indem sie Vegetarierin ist und nur mitmacht, weil es von ihr verlangt wird.
Diese unbewusst übernommene Rolle des Mitmachens versucht sie im
Verlauf des Films in ein bewusstes Handeln zu verändern. Sie will aktiv
sein, etwas bewegen und schließt sich so der Antifa-Gruppe an. In der
Entscheidung Gruppenmitglied zu werden, wird sie zum Krieger, denn wie
in allen Gruppen, muss sie auch in dieser durch Handeln zeigen, dass sie ein
würdiges und volles Mitglied ist. Eine Gruppe die Gewalt eigentlich
ablehnt, fordert sie aber als Mutprobe. Da kommt die Frage nach der
Gewaltdefinition, denn Autoreifen zerstechen ist ebenso ein Aggressionsakt
wie sich Prügeln, nur eben eines ist mehr heimlich, versteckte Aggression
und der andere ist der offen ausgetragene Kraftakt. Der Gruppenzwang
greift auch bei Luisa, eine Gruppe, die klare Konzepte von Freund und
Feind hat und sich anders, ja eigentlich gewaltlos, darstellen will. Denn
Die Anziehungskraft bestimmter militanter Gruppen liegt nicht in deren
Ideologie, sondern in ihrer Gewaltbereitschaft. Man geht nicht zu den Hools
und nicht zur normalen Fangruppe, weil man Gefahr erleben möchte, den
Zusammenhalt im Kampf, den eigenen Mut, den Sieg. All diese Gruppen, on
Hooligans, Neonazis, Anarchisten oder Stadtteil-Gangs, gewinnen ihre
Mitglieder nicht auf Schulungsabenden und durch ideologische
Überzeugungsarbeit, sondern indem sie zu Aktionen aufrufen und die
Einladung aussprechen, sich gemeinsam der Gefahr auszusetzen. Man kommt
zusammen, um zu kämpfen, und manch einer stellt sich dabei vor, ob er wohl
stark genug sein könnte zu töten. (Kröber, 8)
Und Morgen die ganze Welt : Gewaltmanifestation als psychologische Antwort
Estudios Franco-Alemanes 14 (2022), 27-39
37
Diese Aussage kann auch auf Luisa angewendet werden: Sie will aktiv
etwas verändern und sucht die Gruppe. Doch leider ist die Eskalierung der
Gewalt in dieser Gruppe nicht wie in anderen ein fester Bestandteil, um
Veränderungen zu provozieren. Daher kühlt sich die Beziehung zwischen
Luisa und ihrer Freundin, die sie in die Gruppe eingeführt hat, mit
zunehmender Gewaltbereitschaft ab. Luisa sucht innerhalb der Gruppe
Verbündete, die sie in ihrem Drang und auf ihrem „Kriegspfad“
unterstützen.
Auslösender Wendepunkt ist die selbst erfahrene Gewalt, die ihr auf
einer der Aktionen angetan wird. Ihr Lebenstrieb erwacht und provoziert
mehr Gewalt, da er sich im Destruktionstrieb nach außen hin entladen muss.
Die Gewalterfahrung schaltet die Justiz im Kopf aus und legitimiert die
eigene Gewaltanwendung. Luisa tritt in eine Spirale, wo nur noch die
gesellschaftlichen und kulturellen Normen und Moralvorstellung sie vor
einem fatalen Schritt schützen. Die Gewalt ist für sie an diesem Punkt
legitim geworden, denn sie kämpft ja eigentlich für eine gute Sache und
verleugnet ihr eigenes, bedenkenswertes Handeln. Sie weiß aus ihrem
Studium und aus ihrem sozialen Kontext, dass Handeln immer eine
Reaktion provoziert und auch eine Strafe folgen kann, denn „nicht die
Seelenkur, sondern ein hohes Risiko der Bestrafung schreckt den gesunden
Gewalttäter ab“ (Körber, 9). Doch wie kann sie ihrem Destruktionstrieb
Rechnung tragen? Luisa geht so weit, dass sie das Jagdgewehr ihres Vaters
entwendet und sich wie ein Scharfschütze auf dem Dach verschanzt, um die
Mitglieder der rechtsextremen Gruppe „abzuknallen“. Sie sind Wild, sind zu
dezimieren, zum Wohl der anderen. Es kann nach ihrem Ermessen nicht
richtig sein, dass diese Gruppe Sprengstoff für Aktionen besitzt, dass
rechtsradikale Lieder öffentlich gesungen werden dürfen und keine
Konsequenzen zu erwarten sind. Ihr Rechtsgefühl ist aus den Angeln
gehoben worden und nur ihr Trieb bestimmt ihr weiteres Handeln. Doch
der letzte Schritt, eben auf den Abzug zu drücken, kann sie nicht begehen.
Sie geht vom „Schlachtfeld“, enttäuscht, entblößt und wütend. Ihre eigene
ohnmächtige Wut bricht sich Bahn in einem lauten Gebrüll und die Geste,
dass sie das Gewehr von sich wirft, unterstreicht die nicht vollzogene
Destruktion. Was ist passiert? Luisa hat noch diese emphatische Schwelle,
denn es ist ein Unterschied ein Tier bei der Jagd, auch wenn dies willentlich
passiert, zu töten oder einen Menschen vorsätzlich aus dem Hinterhalt
RICARDA HIRTE
Estudios Franco-Alemanes 14 (2022), 27-39
38
umzubringen. Luisa wollte sich auf die vermeintlich gleiche Ebene wie ihre
Feinde stellen, doch die Empathie ermöglichte es ihr nicht. Hier spielen
natürlich auch die gesellschaftlichen Konsequenzen eine Rolle, denn einen
Menschen zu töten impliziert den Austritt aus dem sozialen Gefüge. Dies
kann der Vertraute Dietmar in Film nur zu gut bestätigen, der für seine
Mitgliedschaft in den Revolutionären Zellen in Haft war. Er ist der Analyst
zwischen den jugendlichen Kriegern, den Drängern und Stürmern und dem
gutbürgerlichen Muster eines erfolgreichen Studenten; was zählt ist am
Ende doch die Anpassung, denn das Ausgegrenztsein aus der Gesellschaft
ist ein Entschluss für immer und nicht umkehrbar.
Im letzten Akt, als bereits der Film zu Ende ist, sieht der Zuschauer im
Abspann, wie das rechtsextremistische Lager durch eine Sprengung zerstört
wird. Es wird suggeriert, dass Luisa und ihre Freundin einen stillen Pakt der
Übereinkunft besiegelt haben, denn nicht die rechtsextreme Gruppe,
sondern die Antifa wurde von der Polizei gestürmt, festgenommen und aus
ihrem Haus verbannt. Die vermeintlich antisoziale und somit gefährliche
Gruppe ist nicht die rechte, sondern die linke. Dies stellt sich gegen das
Rechtsverständnis und da vom Staat keine Hilfe zu erwarten ist, ganz im
Gegenteil, übernimmt Luisa als Rechtsstudentin die Rolle des Richters und
Henkers, indem sie ihrem Destruktionstrieb freien Lauf lässt, der sich im
Akt der Rache in einer Sprengstoffwolke manifestiert. Denn „Gewalt gehört
zur conditio humana, dies zu verleugnen ist lebensgefährlich. Man kann
Gewalt nicht durch Anti-Aggressions- oder Empathietraining beseitigen,
man kann sie nur möglichst gut „einhegen““ (Kröber, 9).
Literaturverzeichnis
Freud, Sigmund. (1905). Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. G. W., V, 67, S.
E., VII, 168.
_____. (1932). Neue Folgen der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse.
G. W., XV, 101, S. E., XXII, 95.
_____. (1938). Abriß der Psychoanalyse. G. W., XVII, 70. S.E., XXIII, 148.
Kniebe, Tobias. (2020). Filmfestspiele Venedig Fragen der Macht.
Süddeutsche Zeitung, 10. September 2020. URL:
https://www.sueddeutsche.de/kultur/venedig-filmfestival-deutsch-
1.5027450.
Und Morgen die ganze Welt : Gewaltmanifestation als psychologische Antwort
Estudios Franco-Alemanes 14 (2022), 27-39
39
Kröber, Hans Ludwig. (2012). Töten ist menschlich. Die Zeit, nr. 42. URL:
https://www.zeit.de/2012/42/Toeten-Mord-Psychologie-
Kriminalistik/komplettansicht.
Laplanche, J. (1972). Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt am Main:
Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft.