ISSN: 2171-6633
Estudios Franco-Alemanes 15 (2023), 11-30
DER UNTERHALTUNGSWERT VON
SPÄTMITTELALTERLICHEN MÆREN UND IHRE
DIDAKTISCHE RELEVANZ IM 21. JAHRHUNDERT
ALBRECHT CLASSEN
University of Arizona
aclassen@arizona.edu
Fecha de recepción: 27.03.2023
Fecha de revisión: 28.09.2023
Fecha de aceptación: 02.10.2023
Zusammenfassung: Die heutige Mediävistik sieht sich vor der schwierigen Aufgabe,
den eigenen Stand im akademischen Kontext zu behaupten, vor allem weil
Einschreibezahlen und Interesse an mittelalterlicher Literatur zurückgehen. Solange
aber Literaturgeschichte überhaupt als relevant angesehen wird, gibt es keinen
Grund zu fürchten, an Legitimation zu verlieren. Unsere Aufgabe besteht daher
darin, pädagogisch innovativ vorzugehen und epistemologische Brücken zu bauen,
was mittels mittelhochdeutscher Versmæren relativ mühelos gelingen dürfte.
Anhand von einer Auswahl von aussagekräftigen Beispielen wird hier vor Augen
geführt, welchen zeitlosen Wert diese Texte besitzen und wie sie pragmatisch im
Seminar für intensive Diskussionen über fundamentale Fragen des menschlichen
Lebens eingesetzt werden können.
Schlüsselwörte: Relevanz mittelalterlicher Literatur; Versmæren; zeitlose Fragen im
Literaturunterricht; Unterhaltung und Didaxe.
The Entertainment Value of Late Medieval Verse Narratives
in the 21st Centuy
Abstract: Today, Medieval Studies face the difficult task of defending its own
position within the academic context, especially because the number of student
registrations and the general interest in medieval literature is dropping. However, as
long as literary history is regarded as relevant in general, there is no reason to fear to
lose the own legitimacy. Hence, our task consists of developing pedagogical
ALBRECHT CLASSEN
Estudios Franco-Alemanes 15 (2023), 11-30
12
innovations and to establish epistemological bridges, what can be achieved fairly
easily with the help of Middle High German verse narratives. On the basis of a
selection of meaningful examples, this article illustrates what timeless value these
texts have and how they can be used pragmatically in a seminar for intensive
discussions about fundamental questions regarding human life.
Keywords: Relevance of medieval literature; verse narratives; timless questions in a
literature class; entertainment and didacticism
Sumario: 0. Einleitung. 1. Mæren im Unterricht. 2. Jans der Enikel, Friedrich von
Auchenfurt. 3. Heinrich Kaufringer, Die unschuldige Mörderin. 4. Konrad von
Würzburg: The False Confession. Schlussfolgerungen.
0. Einleitung
Es bedarf heute kaum noch weiterer Bemerkungen darüber, welchen
schweren Stand die Mediävistik als Universitätsfach inzwischen hat, und an
Schulen ist eigentlich gar nicht mehr damit zu rechnen, dass mittelalterliche
Literatur, Kunst, Philosophie oder Geschichte curricular überhaupt
integriert werden, sehen wir von einigen Bemühungen am Rande ab, die
leider kaum auf Widerhall stoßen.
1
Trotzdem hält sich Mediävistik recht
hartnäckig, und dies sogar im außereuropäischen Kontext, wie die
zahlreichen Tagungen, Publikationen, Konzerte und sogar Feste
demonstrieren, auf die man allenthalben stoßen kann. So manche
Buchverlage verfügen über ein stärkerers Sortiment an mittelalterlichen
Veröffentlichungen als in anderen Bereichen, wie dies z.B. bei der University
of Pennsylvania Press oder Walter de Gruyter der Fall zu sein scheint. Filme
oder Videospiele mit mittelalterlichen Motiven oder Themen genießen eine
hohe Popularität, aber dies ist fast immer so der Fall, weil hierbei die
1
. Siehe z.B. Warum nicht einmal Mittelalter? Lektüreempfehlungen für Schule und Freizeit, hrsg. von
Maria E. Dorninger (Wien: Edition Praesens, 2004); Ylva Schwinghammer, Das Mittelalter als
Faszinosum oder Marginalie? Länderübergreifende Erhebungen, Analysen und Vorschläge zur
Weiterentwicklung der Mittelalterdidaxe im muttersprachlichen Deutschunterricht. Mediävistik
zwischen Forschung, Lehre und Öffentlichkeit, 7 (Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2013); Zurück zum
Mittelalter: Neue Perspektiven für den Deutschunterricht, hrsg. Nine Miedema und Andrea Sieber.
Germanistik, Didaktik, Unterricht, 10 (Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2013); Mediävistik und Schule
im Dialog, hrsg. Uta Goerlitz und Meike Hensel-Grobe. Das Mittelalter 22.1 (Berlin und Boston:
Walter de Gruyter, 2017).
Der Unterhaltungswert von spätmittelalterlichen Mæren und ihre didaktische…
Estudios Franco-Alemanes 15 (2023), 11-30
13
Vormoderne auf ludische Art und Weise angeeignet oder zweckentfremdet
wird.
2
Wirklich wissenschaftlich solide Auseinandersetzung mit
mittelalterlichen Texten, Bildern, Kunstwerken, Gebäuden, Waffen oder
Geräten aller Art spielt meistens eine untergeordnete Rolle, auch wenn etwa
die amerikanische Society for Creative Anachronism oder entsprechende
soziale Gruppen in anderen ndern der Welt durchaus ernst zu nehmende
Bemühungen machen. Viele Städte halten viel auf sich, weil sie ihre eigene
mittelalterliche Geschichte prächtig durch entsprechende Feste öffentlich
aufführen oder reaktivieren können, wie dies u.a. in Tewksbury (UK),
Landshut, Hameln (Deutschland), Wolin (Polen), Orihuela, Teruel (Spanien)
oder Siena (Italien) der Fall ist.
Im akademischen Kontext hingegen sieht es eher düster aus, weil sich
in den Geisteswissenschaften mittlerweile (2023) das Interesse zunehmend
auf die unmittelbare Gegenwart verlagert, in der immer dringender
politische (Rassismus, Antisemitismus, Geschlechtskonflikte) und
umweltbezogene Themen (Energieversorgung, Klimakrise) zur Sprache
kommen, als ob die Vormoderne nicht genügend auch damit schon zu tun
gehabt hätte. COVID-19 hat aber leider jüngst unser Bewusstsein dafür
geschärft, dass Probleme der Menschheit bzw. des Globus sowohl
presentisch als auch historisch angegangen werden müssen, auf dass wir sie
effektiv in den Griff bekommen.
Jüngst hat sich z.B. die Perspektive auch auf den Rassismus im
Mittelalter und in der Frühneuzeit ausgeweitet, und Globalerwärmung, ob
durch natürliche Ursachen hervorgebracht oder durch menschliches
Einwirken, hat es auch schon im Mittelalter gegeben, wie die neueste
Forschung deutlich vor Augen geführt hat.
3
Historisch-philosophisch
2
. Jan Alexander van Nahl, “Medieval Scandinavian Studies—Whence, Whereto, Why,” und
Albrecht Classen, The Emergence of Rationality in the Icelandic Sagas: The Colossal
Misunderstanding of the Viking Lore in Contemporary Popular Culture.” Beide in der
Sondernummer der Zeitschrift: Medieval Scandinavian Studies Today: Whence, Whereto, Why;
online: https://www.mdpi.com/journal/humanities/special_issues/medieval_Scandinavian
Special Issue for Humanities 11: 110 (2022), ed. Alexander van Nahl;
http://doi.org/10.3390/h11050110.
3
. Ich habe mich mit vielen dieser Fragen in verschiedenen Publikationen der letzten Jahre tiefer
auseinandergesetzt und dort auch die relevante wissenschaftliche Literatur verarbeitet, siehe
z.B. meine Aufsätze: “Toleration as a Subject for World Education? Past and Present
ALBRECHT CLASSEN
Estudios Franco-Alemanes 15 (2023), 11-30
14
gesehen besteht überhaupt keine Frage, ob die Vergangenheit heute noch
von Relevanz ist, denn ohne unsere historischen Wurzeln können wir uns
gar nicht vorwärtsbewegen und die Zukunft bewältigen.
4
Kaum ein anderer
Philosoph hat besser die Überlegung angestellt, worin menschliches
Glücksstreben besteht und wie wir mit dem Wesen von Fortuna umzugehen
haben als Boethius (gest. ca. 525; De consolatione philosophiae).
5
Warum aber
zündet dann die mittelalterliche Literatur nicht mehr so ganz im
akademischen Kontext? Wieso scheint diese eher verknöchert und
unattraktiv zu sein, abgesehen von den Verständnisschwierigkeiten, die
diese generell bietet? Und, wie können wir neue oder alte Wege einschlagen,
Perspectives for Students the World Over Based on Literary-Historical Material,” Current
Research Journal of Social Sciences and Humanities 4.1 (2021); online:
https://journalofsocialsciences.org/vol4no1/religious-toleration-as-a-subject-for-world-
education--past-and-present-perspectives-for-students-the-world-over-based-on-literary-
historical-material/. DOI: http://dx.doi.org/10.12944/CRJSSH.4.1.03. id., “Globalerwärmung im
Mittelalter als Grundlage für die Entstehung der höfischen Liebe?,” Wandlungsprozesse der
Mentalitätsgeschichte, ed. Peter Dinzelbacher and Friedrich Harrer (Baden-Baden: Deutscher
Wissenschaftlicher Verlag, 2015), 121-46; id., “Blacks in the Middle Ages What About Racism
in the Past? Literary and Art-Historical Reflections,” pre-print:
https://www.qeios.com/read/KIJP54; Kommentare: https://www.qeios.com/notifications;
Current Research Journal of Social Sciences and Humanities ¡Error! Solo el documento principal.6.1
(2023): 1-18; online at: https://bit.ly/3MuEQsA; id., “Modelle politischer und persönlicher
Kommunikation in der Literatur des deutschen Spätmittelalters. Der Fall von Rudolfs von Ems
Der guote Gêrhart (ca. 1220),” Etudes Germaniques ¡Error! Solo el documento principal.78.1
(2023): 7799; “The Defense of the Humanities in the Twenty-First Century: Communication in
the Literary Laboratory. With a Focus on the Verse Narratives by Heinrich Kaufringer,” New
Literaria: An International Journal of Interdisciplinary Studies in Humanities ¡Error! Solo el
documento principal.3.2 (2022): 8-16, online at: https://newliteraria.com/articles/v03i2/v03i2-
03.pdf.
4
. Making the Medieval Relevant, ed. Conor Kostick, Chris Jones und Klaus Oschema (Berlin und
Boston: Walter de Gruyter, 2020).
5
. Als Einführung, siehe jetzt Albrecht Classen, “Management of Stress Through Philosophical
Reflections: Teachings by Boethius (d. 524) for Our Modern Life,Conatus - Journal of Philosophy
7.2 (2022): 63-78; DOI: https://doi.org/10.12681/cjp.25648;
https://ejournals.epublishing.ekt.gr/index.php/Conatus/issue/view/1636; id., “Exploration of the
Self in a Religious-Ethical Context from Late Antiquity through the Early Renaissance: St.
Augustine, Boethius, and Petrarch. Past Ideas for Our Future,demnächst in Athens Journal of
Humanities & Arts.
Der Unterhaltungswert von spätmittelalterlichen Mæren und ihre didaktische…
Estudios Franco-Alemanes 15 (2023), 11-30
15
um den Widerstand gegen solche Texte aufzuweichen, die vor ca. 1500
entstanden sind?
6
Vor ein paar Jahren hielt Eva Parra-Membrives auf einer Tagung an der
Rikkyo Universität Tokio einen einschlägigen Vortrag, der dann später in
einem Sammelband erschienen ist. Auf diesen möchte ich hier kurz
eingehen, um die von ihr entwickelten Gedanken auszuweiten und bezogen
auf einige Texte des Spätmittelalters zu übertragen, die sich ausgezeichnet
dafür eignen, unter Studenten das Interesse an jener Literatur zu wecken
und damit das Fach der Mediävistik überhaupt zu stärken.
7
Natürlich
drücke ich damit vor allem meine Hoffnung aus, kann also nicht
entschieden argumentieren, mittels dieser Texte der Literatur des
Mittelalters sei eine Zauberformel gegeben, auf die sich jeder verlassen
könnte. Eine Grundüberlegung bietet sich aber sofort an, denn wenn unsere
Studenten schlicht Freude an den Texten empfinden, die wir im Seminar
behandeln, gewinnen wir sie leicht für dieses Fach und können von dort aus
weitere, mehr herausfordernde Werke konsultieren und studieren. Das
Studium von Gottfrieds von Straßburg Tristan (ca. 1210) hat nach meinen
Erfahrungen stets noch Langzeitwirkungen gezeigt, denn selbst viele Jahre
später haben mir ehemalige Studenten bestätigt, wie tief sie dieser höfische
Liebesroman bewegt habe.
Parra-Membrives reflektierte zunächst über die Spannungen zwischen
Trivialliteratur und kanonischer Literatur, die keineswegs als abträglich zu
bezeichnen wären, denn literatursoziologisch gesehen kann die erste
Gruppe ohne weiteres in allgemeine Betrachtungen einbezogen werden,
6
. Albrecht Classen, ¡Error! Solo el documento principal.“Medieval Literature as an Archive of
Human Experiences: The Middle Ages as a Depository of Human Knowledge, Wisdom,
Happiness, and Suffering,” Current Research Journal of Social Sciences and Humanities 6.2 (2023),
online at: https://bit.ly/44SUIee; or at: https://journalofsocialsciences.org/vol6no2/medieval-
literature-as-an-archive-of-human-experiences--the-middle-ages-as-a-depository-of-human-
knowledge--wisdom--happiness--and-suffering/; id., “The Relevance of the Middle Ages -
Revisiting an Old Problem in Light of New Approaches and Teaching Experiences in a Non-
Western Context,” demnächst in New Chaucer Studies: Pedagogy and Profession, ed. Gregor M.
Sadlek.
7
. Eva Parra-Membrives, Herzog Ernst als Fantasy-Roman: Trivialität und Mittelalter,”
Japanisch-deutsche Gespräche über Fremdheit im Mittelalter: Interkulturelle und interdisziplinäre
Forschungen in Ost und West, ed. Manshu Ide and Albrecht Classen. Stauffenburg Mediävistik, 2
(Tübingen: Stauffenburg, 2018), 187-97.
ALBRECHT CLASSEN
Estudios Franco-Alemanes 15 (2023), 11-30
16
wenn es um Leseverhalten, ethische oder moralische Konzepte, globale
Wertvorstellungen oder Geschlechterbeziehungen geht. Dazu bietet sich die
Analyse von eindeutig als trivial zu bezeichnenden Texten gut dafür an,
genaue Kriterien zu entwickeln, die es den Studenten ermöglicht, klar zu
differenzieren und selbständig Urteile zu fällen, ob ein bestimmtes
literarisches Werk es verdient, in eine Lektüreliste aufgenommen zu werden
oder nicht. In Bezug auf den Herzog Ernst (Ms. A ca. 1170/80, Ms. B ca. 1220)
formuliert Parra-Membrives:
Eine moderne, sprachlich und kulturell angepasste Version des Herzog Ernst,
als Fantasy-Roman verkauft und gelesen, kann sicherlich selbst die
anspruchsvollsten Märkte und die skeptischsten Trivialkonsumenten
erreichen. Zwar würde das für den heutigen Leser leicht umgeformte Werk
höchstwahrscheinlich bei Literaturwissenschaftlern eine weniger wertvolle
Position einnehmen und somit für den literarischen Kanon verloren gehen
dies allerdings allein in der adaptierten Fassung , aber vielleicht sollten wir
un doch überlegen, ob wir unsere alten Text wirklich ganz für uns allein
erhalten wollen (192).
Allerdings handelt es sich beim Herzog Ernst kaum um eine triviale
Dichtung, was den Ansatz doch etwas verändert. Das Problem besteht ja
darin, dass die meisten Studenten heute kaum noch mit Mittelhochdeutsch
zurecht kommen, vom Althochdeutschen ganz zu schweigen. Daher sind
wir als Philologen ja dazu aufgerufen, moderne Übersetzungen zu erstellen,
damit jedenfalls diese sprachliche Hürde genommen werden kann. Zum
Glück passiert in dieser Hinsicht recht viel, wie z.B. die zweisprachige
Ausgabe von Rudolfs von Ems Der guote Gêrhart neuerdings vor Augen
führt.
8
Parra-Membrives hat aber vollkommen Recht darin, auf die
spannenden Abenteuer hinzuweisen, die Herzog Ernst meistern muss, bis er
am Ende glücklich wieder in seine Heimat gelangt, wo er mit Mühen den
Kaiser Otto dazu bringen kann, ihn wieder in seine Gunst aufzunehmen.
Parra-Membrives lehnt keineswegs die zentrale Relevanz von historisch-
kritischen Ausgaben ab, aber sie sucht nach praktischen Wegen, die
8
. Rudolf von Ems, Der guote Gêrhart / Der gute Gerhart. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Hrsg.,
übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Norbert Kösinger und
Katharina Philipowski (Stuttgart: Philipp Reclam jun., 2022); siehe dazu auch meine englische
Übersetzung, An English Translation of Rudolf von Ems’s Der guote Gêrhart (Newcastle upon
Tyne: Cambridge Scholars Press, 2016).
Der Unterhaltungswert von spätmittelalterlichen Mæren und ihre didaktische…
Estudios Franco-Alemanes 15 (2023), 11-30
17
Mediävistik in literaturhistorischer Sicht wieder attraktiv zu machen: “mir
geht es hier darum, zweispurig zu fahren und aus den mittelalterlichen
Werken neu gestaltete Romane zu schaffen, die einerseits die Öffentlichkeit
ansprechen sollen, andererseits auf diesem Wege das Interesse am
Mittelalter schlechthin wecken oder stärken müssten” (192).
Wie weit sollten wir also in unserem Bemühen gehen, mittelalterliche
Epen oder Verserzählungen den heutigen Leseerwartungen anzupassen? Es
ist ganz klar, dass jede Übersetzung nicht vollkommen exakt das Original
wiedergeben kann, aber bisher haben wir uns doch weitgehend daran
gehalten, eine recht genaue Wiedergabe in der modernen Sprache
anzubieten. Sollten wir nun noch stärker in den Text eingreifen und ihn so
modifizieren, dass der mittelalterliche Charakter ganz verloren ginge? Dann
wäre Herzog Ernst plötzlich ein moderner Diplomat oder Industrieller, dann
wären die Monster unversehens Aliens, und dann würden die Abenteuer
nicht mehr im östlichen Mittelmeerraum abspielen, sondern im Weltraum.
Nur, angesichts solch radikaler Eingriffe in den historischen Text brauchte
man Herzog Ernst auch nicht mehr und könnte einfach auf einen Science
Fiction Roman zurückgreifen, womit der Mediävistik ein Bärendienst
geleistet worden wäre.
Parra-Membrives denkt vor allem an die großartigen Leistungen von
Tolkien mit seiner Romantrilogie Der Herr der Ringe, aber dabei handelt es
sich um ein eigenständiges literarisches Werk, in dem viele mittelalterliche
Elemente enthalten sind, das aber nicht als ein Mittelalter-Roman zu
bezeichnen wäre. Diese historischen Aspekte motivieren aber wohl kaum
zukünftige Leser, sich der Literatur des Mittelalters zuzuwenden.
Entscheidend sind doch vielmehr die inherenten Aussagen im Herzog Ernst,
die wirklich relevant und damit auch attraktiv sind. Der anonyme Dichter
formulierte z.B. eine heftige Herrscherkritik und verfolgte eindringlich den
persönlichen Werdegang des Protagonisten, der im Laufe der Zeit seinen
Charakter entwickelt und zu einer vorbildhaften Figur aufsteigt. Die Exotika
der Monster ist aussagekräftig genug, um motivierend zu wirken,
weswegen ja das Werk schon seit etwa zweihundert Jahren immer wieder
rezipiert, übersetzt, paraphrasiert oder dramatisiert worden ist.
9
Seine
9
. Die früheste Übersetzung erschien 1780, von einem anonymen Verfasser. Siehe Siegfried
Grosse und Ursula Rautenberg, Die Rezeption mittelalterlicher deutscher Dichtung. Eine
ALBRECHT CLASSEN
Estudios Franco-Alemanes 15 (2023), 11-30
18
Trivialisierung durch einen modernen Autor wäre also keineswegs
notwendig oder angemessen. Parra-Membrives meint aber eigentlich, dass
wir viele mittelalterliche Text besser vermarken sollten, denn sie enthalten
oft Aussagen, die bis heute wesentlich geblieben sind. Das Mittelalter ist
nicht bloß eine Spielwiese für Fantasy-Liebhaber, sondern eine
entscheidende kulturhistorische Epoche, in der unsere eigene Welt tief
verankert ist, und dies insbesondere intellektuell, spirituell, soziologisch
oder ästhetisch.
1. Mæren im Unterricht
Von Parra-Membrives Überlegungen ausgehend möchte ich daher
nachfolgend ein paar Beispiele aus der Gattung des mære auswählen, um
daran zu zeigen, welchen zeitlosen Wert diese Texte besitzen und wieso sie,
vorsichtig angepasst und gedeutet, ohne weiteres den heutigen Leser
anzusprechen vermögen. Sie erweisen sich vom sozial-historischen Kontext
weit genug von der Gegenwart entfernt, als dass man sie schlicht als
moderne Erzählungen einstufen würde. Zugleich behandeln sie gemeinhin
universale Fragen, die epistemische Brücken zu unserer Gegenwart
schlagen, auch wenn diese in einem etwas verfremdenden Rahmen
auftauchen.
10
Die Themen, die dort angeschnitten werden, erweisen sich schnell als
geradezu aktuell, denn es handelt sich immer wieder um das Verhältnis
zwischen Ehepartnern oder Liebhabern; es geht um kluges oder törichtes
Verhalten, um Kritik am naiven Denken oder um das Aushandeln von
juristischen Fragen. Folglich ergeben sich unendlich viele Möglichkeiten,
fundamentale Probleme zu reflektieren, die mehr oder minder auch in
Bibliographie ihrer Übersetzungen und Bearbeitungen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts (Tübingen:
Max Niemeyer, 1989), 87-94.
10
. Für einen ersten Einstieg und als Lektüregrundlage in einem englischsprachigen Seminar
siehe Erotic Tales of Medieval Germany, selected and trans. by Albrecht Classen. Sec. ed. rev. and
expanded. Medieval and Renaissance Texts and Studies, 328 (2007; Tempe, AZ: Arizona Center
for Medieval and Renaissance Studies, 2009). Die neueste und beste kritische Ausgabe von
mæren ist jetzt Deutsche Versnovellistik des 13. bis 15. Jahrhunderts, hrsg. von Klaus Ridder und
Hans-Joachim Ziegeler. 4 Bde. Bd. 5: English Translation by Sebastian Coxon (Berlin: Schwabe
Verlag, 2020). Die relevante Forschungsliteratur findet sich in beiden Ausgaben gut
dokumentiert. Leider ist diese Edition beileibe nicht vollständig; es fehlt z.B. “Friedrich von
Auchenfurt” von Jans von Enikel, siehe unten.
Der Unterhaltungswert von spätmittelalterlichen Mæren und ihre didaktische…
Estudios Franco-Alemanes 15 (2023), 11-30
19
unserer Welt von großer Bedeutung sind, weil sie sich um die
Identitätsbildung oder Charakterentfaltung drehen. Zwar scheinen die hier
angedeuteten materiellen oder historischen Bedingungen relativ weit von
unserer Realität entfernt zu sein, vor allem wenn wir von Mitgliedern des
Hofes, also von Adligen erfahren, die starke Konflikte erleben und damit
kritisch umzugehen lernen müssen oder daran zerbrechen. Andererseits
bekommen wir Einblicke in die bürgerliche Sphäre, wenn einige der
Verserzählungen in der Stadt angesiedelt sind. Auch Kleriker tauchen öfters
auch, gelegentlich sogar Bauern, aber überwiegend handelt es sich um
globale Fragen bezogen auf Liebe, Ehe und Sexualität.
2. Jans der Enikel, “Friedrich von Auchenfurt”
Der österreichische Chronist Jans der Enikel, oder Jans von Wien,
integrierte einige mæren in seine Weltchronik (nach 1272), von denen ich hier
“Friedrich von Auchenfurt” auswähle. Diese Weltchronik erlebte großen
Zuspruch, wie die 45 handschriftlichen Zeugnisse nach letzter Zählung
dokumentieren.
11
Ob die Verserzählung zu dieser Popularität beigetragen
haben mag, ist nicht zu verifizieren, wir können aber gut auf sie
zurückgreifen, um einen fundamentalen Konflikt literarisch gestaltet zu
identifizieren, der bei genauerer Betrachtung zu vielen Diskussionen führen
kann.
12
Natürlich ist die hier gestaltete Problematik nicht von absoluter
Relevanz für unsere Gesellschaft heute, denn es geht um eine unglückliche
Liebesbeziehung, wie es so viele gab und gibt. Entscheidend ist hier
vielmehr, was zum Wesen von Literatur an sich gehört, dass der Dichter
eine Situation präsentiert, die ein Ehepaar und einen Liebhaber involviert,
11
. https://handschriftencensus.de/werke/5585 (letzter Zugriff am 26. 3. 2023). Für meine
Diskussion des Textes habe ich z.T. auf die Übersetzung in Erotic Tales (siehe Anm. 10)
zurückgegriffen. Das Original befindet sich in Jansen Enikels Werke, hrsg. Philipp Strauch.
Monumenta Germanicae Historicae, Scriptorum Qui Vernacula Lingua Usi Sunt, III. Deutsche
Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters, III (Hannover und Leipzig: Hahnsche
Buchhandlung, 1900); eine digitale Version liegt auch vor:
http://www.dunphy.de/ac/je/jehome.htm (letzter Zugriff am 26. 3. 2023). Unsere Erzählung
umfasst die Verse 28205-28532.
12
. Fritz Peter Knapp, Blüte der europäischen Literatur des Hochmittelalters. Teil 2: Roman Kleinepik
Lehrdichtung (Stuttgart: S. Hirzel, 2019), 247-48. Ein Ritter namens Friedrich von Antfurt ist
1178 im sozialen Umfeld Kaiser Friedrichs I. auf seinem Italienzug dokumentiert; Jans aber
verbindet ihn aber mit Friedrich II., was für uns nichts zur Sache tut.
ALBRECHT CLASSEN
Estudios Franco-Alemanes 15 (2023), 11-30
20
wobei die ausschlaggebende Frage darin besteht, wie die Ehefrau, die
keinerlei Liebe für den anderen Mann empfindet, hier ihre Ehre bewahren
kann, ja, was Ehre überhaupt mit Liebe zu tun haben mag.
Friedrich von Auchenfurt wirbt unablässig um die Liebe einer adligen
Dame, die aber nicht auf ihn eingehen will, weil sie glücklich verheiratet ist.
Nach drei Jahren, in denen er ihr unablässig Boten zu ihr geschickt hatte,
bemüht sie sich, dieser Drangsalierung ein Ende zu machen, indem sie eine
Bedingung für ihre Liebe stellt, die eigentlich unmöglich zu erfüllen wäre.
Wenn er siegreich aus einem anstehenden Turnier kommen würde, ohne
einen Harnisch getragen zu haben, würde sie ihn erhören, obwohl sie ihren
Ehemann inniglich liebe. Erstaunlicherweise verspricht er ihr, genau dies zu
tun, wird dann aber in einem Tjost lebensgefährlich verletzt und kann kaum
von seiner fast tödlichen Wunde genesen.
Das Wunder geschieht aber, und der Ritter begibt sich sogleich zu
seiner Dame und erinnert sie an ihr Versprechen, das sie ihm geben hatte. Er
habe seinen Teil des ‘Vertrags’ erfüllt, nun sei sie an der Reihe, was natürlich
eine absurde Verdrehung von den wesentlichen Idealen von Liebe darstellt,
die niemals gekauft werden kann, auch wenn das Preisangebot noch so hoch
sein sollte.
13
Die Dame ist geradezu verzweifelt, denn nichts ist wichtiger für
sie als ihre Ehre, die sie auf keinen Fall verlieren möchte, was sofort
passieren würde, wenn sie mit Friedrich Ehebruch beginge. Immer wieder
beschwört sie ihn, nicht auf die Erfüllung des ‘Vertrags’ zu drängen, denn
sie liebe ihren Ehemann, der genau wie sie stets treu sein werde. Die
entscheidende Textpassage lautet:
“... des möht ich niht vergezzen,
daz mîn lîp dheinem man
28390 wurd nimmer undertân
dann dem lieben herren mîn.
diu stæt muoz immer an mir sîn.”
13
. Albrecht Classen, “Contracting Love Versus Courtly Love: Jans Enikel’s ‘Friedrich von
Auchenfurt,’ the Anonymous Mauritius von Craûn, and Dietrich von der Gletze’s ‘Der Borte’,”
Neohelicon 46.1 (2019): 159-81, https://doi.org/10.1007/s11059-019-00476-3; or:
https://link.springer.com/article/10.1007/s11059-019-00476-
3?wt_mc=alerts.TOCjournals&utm_source=toc&utm_medium=email&utm_campaign=toc_1105
9_46_1.
Der Unterhaltungswert von spätmittelalterlichen Mæren und ihre didaktische…
Estudios Franco-Alemanes 15 (2023), 11-30
21
Und gegenüber Friedrich betont sie:
“nû wizz ez got der rîch,
28420 daz niht sô bitter wær gelîch,
ich wolt ez tuon williclîch,
ê daz ich an mînem herren rîch
mîn triu zerbræch ze dheiner vrist.
möhtet ir iu indert dheinen list
28425 für setzen den ich tæt,
daz ich mîn êr behielt stæt?”
Friedrich hat schließlich ein Einsehen, fordert sie aber dann stattdessen
dazu auf, einen anderen geradezu schmerzlichen Preis zu bezahlen. Wenn
sie in der Öffentlichkeit das von seinem Blut besudelte Hemd tragen würde,
sei er befriedigt und könne sie so von ihrem Versprechen lösen, sich ihm als
Geliebte hinzugeben. Genau dies macht sie dann auch, als sie zur
Pfingstfeier in der Kirche während der Zelebrierung der Eucharistie
(Abendmahl) ihren Mantel fallen lässt und vor aller Augen in dem
blutbesudelten Hemd steht.
Für ihren Ehemann stellt dies eine ungeheure Schande dar und er
fürchtet, seine Frau habe ihren Verstand verloren.
14
Zornentbrannt eilt er aus
der Kirche fort nach Hause, wo er auf ihre Rückkehr wartet. Zunächst will er
einen Streit vom Zaune brechen, aber als sie ihm dann die ganze Wahrheit
gesteht und damit zu erkennen gibt, wie sehr sie unter den Bedrängnissen,
ja geradezu Belästigungen des Ritters hatte leiden müssen, dass sie aber stets
die Treue zu ihrem Ehemann gewahrt habe, versteht er endlich, welch ein
Opfer sie für ihn erbracht hat. Er umarmt sie und betont seine unendliche
14
. Auch im Mittelalter wurde also Geisteskrankheit thematisiert bzw. behandelt, selbst wenn
oftmals religiöse Ausdrucksweise dies vor unseren Blicken vernebeln könnte. Vgl. Andrew
Scull, Madness in Civilization: A Cultural History of Insanity from the Bible to Freud, from the
Madhouse to Modern Medicine (Princeton, NJ, und Oxford: Princeton University Press, 2015);
Albrecht Classen, “Madness in the Middle Ages - An Epistemological Catalyst? Literary,
Religious, and Theological Perspectives in Caesarius of Heisterbach’s Dialogus Miraculorum,”
Hermeneutics of Textual Madness: Re-Readings/Herméneutique de la folie textuelle: Re-lectures, ed. M.
J. Muratore. Biblioteca della Ricerca, 38 (Fasano, Italien: Schena Editore, 2016), vol. I, 339-68.
ALBRECHT CLASSEN
Estudios Franco-Alemanes 15 (2023), 11-30
22
Liebe für sie. Friedrich von Auchenfurt hingegen begreift endlich, dass er
auch unter größten Anstrenungen niemals Erfolg mit seinem Liebeswerben
erreichen würde. Aus Furcht, wohl vom Ehemann seiner Dame verfolgt und
getötet zu werden, flieht er schließlich des Landes und sst sie somit
endgültig in Ruhe.
Obwohl die Ehebeziehung in Gefahr stand, wegen ihres seltsamen
Verhaltens zu brechen, kann die Dame sowohl ihre Ehre als auch ihre Ehe
retten, wobei das eine engstens mit dem anderen zusammenhängt. Der
Dichter spricht höchste Anerkennung für sie aus, weil es ihr am Ende
gelingt, sich aus der Strickfalle der höfischen Liebe zu befreien und nicht nur
ihre Ehre, sondern auch ihre Ehe zu bewaren. Natürlich kann man ihr auch
vorwerfen, gar zu leichtfertig die Forderung an Friedrich gestellt zu haben,
ungewappnet ins Turnier zu ziehen, denn sie war schlicht davon
ausgegangen, dass der Bewerber dieser nicht nachzukommen fähig sein
würde. Sie hatte ihn aber unterschätzt und sich damit selbst in Gefahr
gebracht. Sie hätte kategorisch all seine Werbungen ablehnen, vielleicht
sogar ihren Ehemann darüber informieren sollen, wie wir es in so manchen
anderen Verserzählungen hören (“Frauentreue”, “Die drei Mönche zu
Kolmar” etc.), aber sie wurde für drei Jahre von dem Ritter belästigt und
konnte sich seiner nicht länger erwehren, wollte nichts anderes, als ihre Ehre
bewahren und zugleich vor der Gefahr geschützt sein, von ihm physisch
bedroht zu werden.
Es ergeben sich verschiedene Möglichkeiten, die Verhältnisse bzw.
Personen in dieser Verserzählung zu bewerten, womit eine Fülle an
Diskussionspunkten zur Sprache kommen kann. Der Ausgang des mære
erweist sich als ziemlich überraschend, aber der entscheidende Punkt
besteht doch eindeutig darin, dass sie sich nicht von Friedrich verführen
lassen will, dass ihr die eheliche Treue und damit ihre eigene Ehre am
wichtigsten erscheint, was sie alles erkämpft, indem sie sich der öffentlichen
Schande aussetzt, ohne dass irgendjemand eine Ahnung hätte, welche
symbolische Bedeutung das blutige Hemd besitzen würde. Der Ehemann
gewinnt nicht unbedingt unsere Anerkennung, während Friedrich eine eher
zwielichte Figur abgibt. Einerseits möchte er sie dazu zwingen, sich ihm
sexuell zu ergeben, auch wenn er stets nur von seiner Liebe für sie spricht.
Andererseits gewährt er ihr dann doch einen Ausweg, obwohl er genauso
Der Unterhaltungswert von spätmittelalterlichen Mæren und ihre didaktische…
Estudios Franco-Alemanes 15 (2023), 11-30
23
wie sie davon ausgeht, dass sie diese Herausforderung nicht meistern
könnte.
Beide Personen spielen mit dem Feuer, um ihre innigsten Wünsche in
die Tat umzusetzen. Aber während er völlig töricht sein Leben aufs Spiel
setzt, riskiert sie den Verlust ihres sozialen Ansehens, kann aber damit ihr
ethisches Ideal bewahren, was ihr Ehemann am Ende doch stark anerkennt
und würdigt. Friedrich hingegen muss letztlich von ihr fliehen, weil er alle
Chancen verloren hat und nun sogar um sein Leben fürchtet, auf das er
vorher nichts gesetzt hatte.
3. Heinrich Kaufringer, “Die unschuldige Mörderin”
Heinrich Kaufringer, der aus der Gegend von Augsburg stammte und
eine Menge an Versnovellen um 1400 verfasste, provozierte sein Publikum
in vielfacher Weise, und dies insbesondere mit der Erzählung einer Gräfin,
die dreifachen Mord begeht und indirekt an einem vierten mitbeteiligt ist,
am Ende jedoch trotzdem als Unschuldige bezeichnet wird.
15
Dieses Paradox
lädt sehr schnell zu intensiven Diskussionen ein, die ungemein kontrovers
verlaufen dürften, denn es gibt viele gute Argumente, die Gräfin zu
verteidigen bzw. anzuklagen, womit der Fokus auf der Frage nach der
Selbstverteidigung ruht, zu der sie zurückzugreifen gezwungen ist.
In der Nacht vor ihrer Hochzeit mit dem jungen König kommt ein
fremder Ritter zu ihr, der vorgibt, der Verlobte zu sein und unbedingt mit
ihr schlafen wolle. Sie und ihr Bruder haben bereits ihre Eltern verloren, und
der Bruder hält sich zu dem Zeitpunkt beim König auf. Sie ist also völlig
ungeschützt und kann auf keine Hilfe in dieser Situation rechnen. Dem
Ritter war von seinem Diener eingeredet worden, dass die Gräfin sehr lose
Moral verfolge und ein leichtes Opfer seiner sexuellen Gelüste sein würde,
habe sie sich ja bereits verschiedenen Männern hingegeben. Obwohl die
Gräfin stark zögert, den fremden Mann einzulassen, kann sie ihn nicht
15
. Novellistik des Mittelalters: Märendichtung, hrsg. von Klaus Grubmüller. Bibliothek deutscher
Klassiker, 138 (Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1996); Nr. 17 in Erotic Tales (siehe
Anm. 9), 109-117. Vgl. auch Heinrich Kaufringer, Werke, hrsg. von Paul Sappler. Bd. 1: Text
(Tübingen: Max Niemeyer, 1972). Siehe dazu meine englische Übersetzung des Gesamtwerks:
Love, Life, and Lust in Heinrich Kaufringer’s Verse Narratives. Medieval and Renaissance Texts and
Studies, 467. MRTS Texts for Teaching, 9. Rev. and expanded 2nd ed. (2014; Tempe, AZ:
Arizona Center for Medieval and Renaissance Studies, 2019).
ALBRECHT CLASSEN
Estudios Franco-Alemanes 15 (2023), 11-30
24
draußen stehen lassen, weil sie in ihm den König zu erkennen glaubt und
Angst davor hat, ihn gleich vor ihrer Heirat zutiefst zu verärgern.
Nachdem die beiden miteinander geschlafen haben, verrät sich der
Ritter unbeabsichtigt und schläft dann ein. Sie holt daher ein Licht und kann
die schreckliche Wahrheit feststellen. In ihrer Not holt sie ein scharfes
Messer und schneidet ihm den Kopf ab, was sie sozusagen zu einer zweiten
altbiblischen Judith werden lässt. Tragischerweise vermag sie dann aber
nicht, den Körper alleine aus dem Zimmer zu schleppen und bittet daher
den eigenen chter um Hilfe. Dieser entpuppt sich plötzlich als treulos
und hinterhältig, denn er verlangt, dass sie zuerst mit ihm schlafen müsse,
bevor er ihr beistehen würde. In ihrer Not lässt sie ihn gewähren, aber als er
dann den Körper über die Brunnemauer hieven will, um ihn so zu
entfernen, hebt sie blitzschnell seine Beine und lässt ihn selbst ins Wasser
fallen, wo er ertrinkt. Nach der Hochzeit muss die Gräfin befürchten, dass
ihr Ehemann leicht merken könnte, dass sie keine Jungfrau mehr ist, und
bittet daher ihre vertrauenswürdigste Dienerin, an ihrer Stelle mit dem
König zu schlafen. Diese stimmt dem zwar zu, führt es auch aus, aber
weigert sich dann ganz unvermutet, das Bett zu räumen, um der Gräfin den
Platz zu gewähren, der ihr auch zusteht; sie wolle selbst Königin werden.
In ihrer Verzweiflung begeht die Protagonistin den dritten Mord,
indem sie im Schlafzimmer ein Feuer legt, ihren Mann schnell rettet und
dann die Tür verschließt, so dass die Dienerin verbrennen muss. Der vierte
‘Mord’, wird von dem Bruder der Gräfin und dem König begangen, die am
Morgen nach der entscheidenden Nacht zurück zu seiner Burg kommen,
den Diener des treulosen Ritters finden und ihn als vermeintlichen
Pferdedieb festnehmen und aufhängen.
Die Gräfin kann dann für zweiunddreißig Jahren ein glückliches
Eheleben führen, bis am Ende die eigenen Schuldgefühle nach oben brodeln
und sie sich gezwungen sieht, alles bis ins Kleinste ihrem Mann zu gestehen.
Dieser aber wirft ihr gar nichts vor, verurteilt sie nicht, sondern anerkennt
sie für ihre lange Leidenszeit und bezeichnet sie sogar als unschuldig, weil
sie nur aus Selbstverteidigung gehandelt habe. Weder ihre Ehre noch ihre
soziale Stellung seien durch diese Taten in der Vergangenheit geschädigt
worden, und er selbst werde sie bis an ihr Lebensende lieben.
Der Erzähler drückt eindeutig seine Parteinahme für die Gräfin aus und
lobt sie unumwunden, genau wie der König es tut, denn sie habe keine
Der Unterhaltungswert von spätmittelalterlichen Mæren und ihre didaktische…
Estudios Franco-Alemanes 15 (2023), 11-30
25
Schuld auf sich geladen, während die vier Toten ihr Schicksal erleiden
mussten, weil sie sich so schwer gegen die Gräfin vergangen hätten. Die
Frage, die sich allerdings für uns ergibt, besteht darin, ob die Protagonistin
so selbständig die Justiz in die eigenen Hände nehmen durfte, ob ihre
Handlungen dem Verbrechen aller vier Personen Genüge getan hatten, und
ob ihre Taten wirklich als Mord zu bezeichnen wären. Gibt es so etwas wie
unschuldigen Mord? War es wirklich Mord, was sie begangen hatte? Oder
war es gerechtfertigte Rache an den Übeltätern? In der bedrängten Situation
bestand ja kein Ausweg für sie, und sie konnte ihrem tragischen Schicksal
nur dann entgehen, wenn sie sofort handelte. Es wäre nicht auszudenken,
was sich ergeben hätte, wenn sie nicht so radikal zur Tat geschritten wäre.
Wir befinden uns also in einem echten juristischen Konflikt, der nicht
komplexer sein könnte. Die ganze Erzählung ist darauf ausgerichtet, die
‘Mörderin’ als Unschuldige hinzustellen, denn sie besaß keine andere
Möglichkeit, als die Täter zu richten in der einzigen Art und Weise, die ihr
zur Verfügung stand. Der Ehemann verteidigt auf jeden Fall, genau wie der
Erzähler, diese tragische Figur, und wir sehen uns damit einer Situation
ausgesetzt, die ungemein schwierig zu beurteilen wäre, sowohl im
Mittelalter als auch in der Moderne. Wir befinden uns hier also in einem
fantastischen Modellfall kriminologischer oder juristischer Art, bei dem man
entweder strikt legalistisch argumentiert und sie für den vierfachen Mord
schuldig erklärt, oder sie als unschuldig hinstellt, weil sie in ihrer ganzen
Existenz gefährdet war und keine Alternative besaß, sich gegen diese drei
Personen (plus den Diener, der aber von anderen hingerichtet wird) zur
Wehr zu setzen.
4. Konrad von Würzburg: “The False Confession“
In dieser Versnovelle, die von einem Dichter verfasst wurde, der den
Namen ‘Konrad von Würzburg nur als Pseudnym verwandte, stoßen wir
auf ein beeindruckendes Beispiel von einem Kommunikationssystem, das
eine städtische Dame entwickelt, um mit Hilfe eines naiven Mönchs eine
Liebezbeziehung mit einem jungen Adligen aufzunehmen.
16
Um Vorsicht zu
16
. Zitiert nach Novellistik des Mittelalters (siehe Anm. 15), 524-42; vgl. dazu auch Erotic Tales (wie
Anm. 10), Nr. 13, 85-89. Es gibt verschiedene Versionen dieser Verserzählung, so von Heinrich
Kaufringer und Hans Schneeberger.
ALBRECHT CLASSEN
Estudios Franco-Alemanes 15 (2023), 11-30
26
üben, bedient sie sich des Mönchs, um sich über das Liebeswerben des
attraktiven Mannes zu beschweren. Sie überreicht ihm sogar einen
wertvollen Ring, den dieser ihr angeblich gegeben habe; sie wolle damit
nichts zu tun haben. Aber als der Mönch den vermeintlichen Liebhaber
moralisch ermahnt, von diesen Plänen Abstand zu nehmen, merkt dieser
überhaupt an erster Stelle, dass jene Dame Interesse an ihm hat und auf
diesem Weg Kontakt mit ihm herstellen will.
Gegenüber dem Mönch drückt er immer wieder Reue aus, sich der
Dame gegenüber falsch verhalten zu haben, während diese mittels des
Mönchs nicht nur neue Geschenke verteilt, sondern auch indirekt andeutet,
auf welchem Wege der Jüngling nachts zu ihr gelangen könne. Indem der
Mönch aufrichtig danach strebt, eine potentielle Verführung der Dame zu
verhindern, ermöglicht er genau diese, weil sie es so angelegt hat und den
jungen Mann zu sich bringen will. Sie ist also die entscheidende Akteurin,
der Mönch spielt törichterweise den Vermittler, ohne dies wirklich zu
begreifen, und der Liebhaber kann am Ende eine Nacht voller Freuden mit
ihr verbringen.
Der Dichter verspottet, wie es so oft im Spätmittelalter geschah, den
Mönch und damit die Kleriker überhaupt, weil sie heuchlerisch von einem
moralischen Standpunkt aus argumentierten, in Wirklichkeit aber genau die
gleichen menschlichen Schwächen aufweisen. In unserem Fall ist aber der
Mönch nicht von fleischlicher Lust angetrieben, sondern agiert nur als
Kommunikator zwischen der Dame und den jungen Mann, ohne überhaupt
zu merken, wie sehr er von ihr manipuliert wird. Der Liebhaber erweist sich
als ein kluger Mensch, der zwischen den Zeilen zu lesen versteht und dann
schnell auf ihr sprachliches Spiel eingeht und genau die gleichen Aktionen
einleitet wie sie, was am Ende zur erotischen Erfüllung für beide führt,
während der Mönch in seiner Zelle singt, sein Brevier liest und in seiner
schlichten Gemütsart glaubt, eine gottgefällige Tat vollbracht zu haben.
17
Der Dichter führt hier eine äußerst klug agierende, ja raffinierte Dame
ein, die zielstrebig ihre eigenen Wünsche verfolgt und bedenkenlos diesen
Mönch als Beichtvater missbraucht, um dem jungen Mann mitzuteilen, dass
17
. Siehe z.B. Birgit Beine, Der Wolf in der Kutte: Geistliche in den Mären des deutschen Mittelalters.
Braunschweiger Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur, 2 (Bielefeld: Verlag für
Regionalgeschichte, 1999).
Der Unterhaltungswert von spätmittelalterlichen Mæren und ihre didaktische…
Estudios Franco-Alemanes 15 (2023), 11-30
27
sie sich ihn als ihren Geliebten erhofft.
18
Wir werden dazu eingeladen, über
den Mönch zu lachen, der überhaupt nicht begreift, was mit ihm geschieht,
während der Liebhaber sich als kluger Beobachter herausstellt, der gut die
indirekte Botschaft der Dame dekodieren kann und sich gleich danach
richtet, was sie ihm verborgen nahegelegt hat, damit er sicher den Weg zu
ihrem Schlafzimmer findet. Sowohl intra- als auch metadiegetisch erweist
sich diese Versnovelle als brillant gestaltet, insofern als hier ein komplexes
kommunikatives Netz entwickelt wird, das es der Dame ermöglicht, obwohl
sie verheiratet ist, während der Abwesenheit ihres Mannes einen Geliebten
zu sich zu locken, und dies sozusagen unter dem Schutzmantel der Kirche,
denn der Mönch hat genauso reagiert, wie sie es sich gewünscht hat.
Schlussfolgerungen
Die wenigen Beispiele, die ich hier angeführt habe, belegen nicht nur,
dass es sich bei den spätmittelalterlichen mæren um hochinteressantes
literarisches Material handelt, in dem z.B. Geschlechterrollen neu austariert
werden, rationales Handeln eingeübt wird, kommunikative Strategien zur
Geltung kommen
19
und fundamentale Fragen nach Schuld, Gerechtigkeit
und Strafe angeschnitten werden. Nicht nur die literarischen Komponenten,
also das sprachliche Kunstwerk, gewinnen zentrales Gewicht, auch die
sozial-historischen Aspekte spielen eine wichtige Rolle. Allein schon von
daher ergeben sich zahlreiche Möglichkeiten, die heutige
Studentengeneration neu zu motivieren, sich mit älterer Literatur
auseinanderzusetzen, in der gelacht wird, in der erotische Aspekte eine
wichtige Rolle einnehmen und in der auch Gewalt und Verbrechen sich zu
erkennen geben.
18
. Zur Rolle der aktiven Frauengestalt siehe Albrecht Classen, “The Agency of Female
Characters in Late Medieval German Verse Narratives: “Aristotle and Phyllis,” Dietrich von der
Gletze’s “Der Borte,” “Beringer,” and Ruprecht von Würzburg’s “Die zwei Kaufleute,” Totius
mundi philohistor: Studia Georgio Strzelczyk octuagenario oblata, ed. Małgorzata Delimata-Proch,
Adam Krawiec, Jakub Kujawiński (Pozńan: UAM/Adami Mickiewicz University Press, 2021),
227-42.
19
. Albrecht Classen, Gender Conflicts, Miscommunication], and Communicative Communities
in the Late Middle Ages: The Evidence of Fifteenth-Century German Verse Narratives,”
Speaking in the Medieval World. Ed. Jean Godsall-Myers. Cultures, Beliefs and Traditions, 16
(Leiden und Boston: Brill, 2003), 65-92.
ALBRECHT CLASSEN
Estudios Franco-Alemanes 15 (2023), 11-30
28
Sprachliche Missverständnisse und sexuelle Erfahrungen kommen
überreich zum Ausdruck, und zugleich handelt es sich oftmals darum, wie
das Individuum trotz zahlloser Widrigkeiten im Leben doch persönliches
Glück, ja Freuden erfahren kann. Zugleich erfahren wir immer wieder, wie
sehr sich der Mensch täuschen kann und falschen Zielen nachläuft, wie es
etwa Froben Christoph von Zimmern (1519-1566) in “Der enttäuschte
Liebhaber” (frühes 16. Jahrhundert) eindrucksvoll beschreibt, wo die
weibliche Hauptfigur sowohl ihren alten Ehemann als auch einen Mönch,
der ihr Geliebter ist, und den jungen Erzähler, der sich Hals über Kopf in
diese Frau verliebt hat, um den kleinen Finger wickeln kann und alle betrügt
und belügt.
20
Hinweisen könnte man auch auf die berühmte Erzählung von
“Aristoteles und Phyllis” (ca. 1280-1300), in der die junge Phyllis Rache an
dem alten Lehrer Aristoteles übt, der ihre Liebebeziehung mit Alexander
zerstörte, weil dessen Lerneifer ihretwegen erlahmt war. Ihr gelingt es
geradezu mühelos, Aristoteles zu verführen und ihn zu überreden, sie auf
seinem Rücken reiten zu lassen, was von der Königin und ihren Hofdamen
beobachtet wird, die laut in Lachen ausbrechen und den Philosophen
beißend verspotten, so dass er bald seine Sachen packen und abreisen muss.
Alter schützt vor Torheit nicht, vor allem wenn Erotik im Spiele ist, was
Phyllis nur zu geschickt zu demonstrieren vermag, wodurch Aristoteles
Verurteilung ihrer Liebesbeziehung mit Alexander als Heuchelei entblößt
wird. Selbst ein alter Mann wie er kann der sexuellen Verführung nicht
widerstehen, wird aber von der jungen Frau unbarmherzig düpiert, sobald
sie weiß, dass die Szene von der höfischen Öffentlichkeit beobachtet worden
ist.
21
Das hier gestaltete Motiv war über viele Jahrhunderte sehr beliebt und
wurde sowohl literarisch als auch künstlerisch gestaltet.
22
20
. Abgedruckt und auch ins Englische übersetzt in Erotic Tales (siehe Anm. 10), Nr. 20, 127-172.
Die Zimmerische Chronik ist inzwischen auch online abrufbar,
https://de.wikisource.org/wiki/Zimmerische_Chronik/Inhalt_nach_Seiten (letzter Zugriff am 26.
3. 2023).
21
. Zitiert nach Novellistik im Mittelalter (wie Anm. 15), 492-522; auch als englische Übersetzung
in Erotik Tales (wie Anm. 10), Nr. 2, 11-17.
22
. Siehe z.B. Cornelia Herrmann, Der “Gerittene Aristoteles”: das Bildmotiv des Gerittenen
Aristoteles” und seine Bedeutung für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung vom Beginn
des 13. Jhs. bis um 1500. Kunstgeschichte, 2 (Pfaffenweiler: Centaurus-Verl.-Ges., 1991); Marija
Javor Briéski, “Eine Warnung vor dominanten Frauen oder Bejahung der Sinnenlust? Zur
Der Unterhaltungswert von spätmittelalterlichen Mæren und ihre didaktische…
Estudios Franco-Alemanes 15 (2023), 11-30
29
Ohne Frage beweist sich sowohl hier als auch in zahllos anderen mæren,
dass die zwischenmenschlichen Beziehungen äußerst komplex und doch
immer wieder sehr ähnlich sind. Ethische oder moralische Ideale stehen
zwar im Raum, aber nur die wenigsten Menschen können sich wirklich ganz
danach richten. Die Gattung dieser Versnovellen übte europaweit Einfluss,
und auch heute kann man leicht beobachten, dass Studenten und andere
Leser mit viel Resonanz auf diese Texte reagieren.
23
Natürlich wird überall gelacht, und so auch im Mittelalter. Das Thema
Sexualität hat stets schon stärkstes Interesse erregt, und auch wenn die
äußeren sozialen oder ökonomischen Bedingungen z.T. anders gewesen
waren, können wir uns bis heute darauf verlassen, dass die Lektüre von
mæren sehr vielversprechend sein dürfte, womit die Gefahr, dass Studenten
schlicht von unseren mediävistischen Seminaren abwandern, weil sie keine
Relevanz in dieser vormodernen Literatur erblicken können, gebannt sein
dürfte. Wie man im Englischen so schön sagt, “sex sells”.
Aber das überall beobachtbare Lachen spiegelt zugleich Reflexionen
über menschliches Fehlverhalten, Dummheit, Torheit und Ignoranz, was
ebenso universell sein dürfte.
24
Indem wir uns also stärker dieser Gattung
zuwenden, steht uns schnell äußerst aussagekräftige, zugleich
unterhaltsame und tiefgründige Literatur zur Verfügung, mit der der
epstemologische Graben zwischen der Mediävistik und der heutigen
Generation überbrückt werden kann. Es handelt sich keineswegs um
Trivialliteratur, so schlicht viele Text auf erstem Blick auch zu sein scheinen.
Sie sind meist komplex gestaltet und bieten mehrere Deutungsebenen, auf
denen wir gut beobachten nnen, wie die verschiedenen Protagonisten
operieren. D.h., diese Verserzählungen erweisen sich als faszinierende
Ambivalenz des ‘Aristoteles-und-Phyllis-Motivs’ als Tragezeichen im Spiegel deutscher
Dichtungen des späten Mittelalters,” Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 59 (2004): 37
66; siehe auch den ausgezeichneten Überblick mit gutem Bildmaterial und nützlicher
Bibliographie online: https://de.wikipedia.org/wiki/Aristoteles_und_Phyllis (letzter Zugriff am
26. 3. 2023).
23
. Klaus Grubmüller, Die Ordnung, der Witz und das Chaos: eine Geschichte der europäischen
Novellistik im Mittelalter. Fabliau - Märe - Novelle (Tübingen: Max Niemeyer, 2006).
24
. Laughter in the Middle Ages and Early Modern Times: Epistemology of a Fundamental Human
Behavior, Its Meaning, and Consequences, ed. Albrecht Classen. Fundamentals of Medieval and
Early Modern Culture, 5 (Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2010).
ALBRECHT CLASSEN
Estudios Franco-Alemanes 15 (2023), 11-30
30
Spiegel menschlichen Verhaltens und unterschiedlicher Denkweisen, aber
diese unterscheiden sich kaum von den unseren heute.
Indem wir unsere Studenten dazu auffordern, in diese literarischen
Spiegel zu schauen, geben wir ihnen die Möglichkeit in die Hand,
tiefschürfende Einblicke in die menschliche Existenz zu gewinnen, und dies
sowohl aus historischer als auch zeitgenössischer Perspektive. Die
Geisteswissenschaften sind und bleiben relevant, natürlich, aber wir müssen
stets im Auge behalten, dass die Argumentation, wie wir diesen
Forschungsbereich rechtfertigen, sich nach den modernen Verhältnissen
richten muss und wir entsprechend das vorhandene textliche Material in
seiner zeitlosen Aussagekraft zu vermitteln bemüht sein sollten.
25
Der
Begriff der ‚Trivialisierung‘ wäre hier vielleicht nicht ganz angemessen, aber
Eva Parra-Membrives hatte schon Recht damit, als sie darauf pochte, dass
wir hinsichtlich mittelalterlicher Literaturdidaxe stets berücksichtigen
müssen, dass wir im Seminarunterricht manchmal bis zu 1500 Jahre
kulturhistorische Unterschiede überwinden müssen. Otfrid von Weißenburg
etwa, einer der ältesten Dichter in deutscher Sprache, wird z.Zt. gerade neu
durch moderne Übersetzungen vermittelt und dabei wieder als ein
gedankentiefer Theologe und Philosoph anerkannt, dessen Lektüre sich
auch im einundzwanzigsten Jahrhundert bemerkenswert lohnt.
26
Die
Versmæren stellen natürlich eine ganz andere Gattung dar, aber sie haben
den großen Vorteil, didaktisch leicht vermittelbar zu sein, einen hohen
Unterhaltungswert zu besitzen und zugleich wertvolle Erkenntnisse
hinsichtlich grundsätzlicher Probleme in unserem Leben zu gewinnen.
Konflikte zwischen Liebhabern oder Ehepartnern sind so alt wie die
Menschheit, und somit erweisen sich die literarischen Bemühungen von
Dichtern des Mittelalters bis heute als vollkommen relevant, auch wenn sie
oftmals eher extreme Situationen vorstellten und sie zur Diskussion
aufbereiteten. Wir können ausgezeichnet darauf zurückgreifen und hoffen,
25
. ¡Error! Solo el documento principal.Albrecht Classen, Humanities in the Twenty-First Century:
The Meaning and Relevance of Medieval and Modern Literature (Chisinau, Moldova: Elvira Press,
2022).
26
Albrecht Classen, ¡Error! Solo el documento principal.“Otfrid von Weißenburg im 21.
Jahrhundert. Eine Einführung,” Vorwort zur spanischen Übersetzung: Otfrid von Weißenburg,
Libro de los evangelios: Narración poética en lengua vernácula de la vida de Cristo por un monje alemán
del siglo IX. Traducción, introducción y notas por Miguel Ayerbe Linares (demnächst im Druck).
Der Unterhaltungswert von spätmittelalterlichen Mæren und ihre didaktische…
Estudios Franco-Alemanes 15 (2023), 11-30
31
damit die Revitalisierung von mittelalterlicher Literatur im heutigen
Universitätsseminar zu bewerkstelligen.